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    Michael Endes "Unendliche Geschichte"

Alwin Binder

Michael Endes „Unendliche Geschichte“ als
,Schule der Phantasie’?

„Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,        
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,        
So hab’ ich dich schon unbedingt -“          
                                (Goethe: Faust I, V. 1851
-55)

Die enthusiastische Aufnahme der „Unendlichen Geschichtebeim Publikum und - größtenteils - bei der Literaturkritik1 zeigt, ddieses Buch den Erwartungshorizont breiter Leserkreise repräsentiert, und man kann davon ausgehen, daß es etwas von den Glückserwartungen seiner Leser widerspiegelt. Das in dieser Geschichte dargestellte Weltbild sagt etwas darüber aus, welchen Idealen und Werten Abertausende von Lesern spontan zustimmen. Das ist Grund genug, das Buch ernsthaft zu untersuchen.

Michael Ende hat in einem Vortrag2 dargelegt, daß für ihn eine Welt nicht in Ordnung sein kann, wenn ein Heer von rund 400 000 Wissenschaftlern damit beschäftigtist, „Vernichtungswaffen zu entwickeln und herzustellen“3. Die Fehlentwicklung des menschlichen Bewußtseins, die dazu geführt hat, habe mit dem modernen Intellektualismusbegonnen und sich seit dem Anfang der Neuzeit4 immer weiter ausgebreitet. Michael Ende polemisiert gegen die Ergebnisse der „angeblich wertfreien Wissenschaft“5 und hält es für „lebensentscheidend [...] daß wir auf eine neue, uns gemäße Weise den Menschen in der Welt wieder [!] heimisch machen [...] daß wir den Intellektualismus, der unfähig ist, aus sich selbst Werte hervorzubringen, durch eine wirkIichkeitsvollere, das heißt erlebbare Art des Denkens in den Bereich des Menschlichen zurückholen“6. Die Menschen hätten keine „‘anthropomorphistischen’, das heißt menschenverwandten Weltvorstellungenmehr, so ddas „Bild der Welt [...] buchstäblich unmenschlich“ geworden sei7. Vordem habe zum Beispiel die Natur als von wunderbaren und geheimnisvollen Wesen, von Elfen und Zwergen bevölkert“8 gedacht werden können, jetzt aber erblicke man im Kosmos [...] nichts mehr als eine teilnahmslose [!] und wesenlose Maschinerie, die nach einer begrenzten Anzahl physikalischer Gesetze funktioniert“9.

Da nach Michael Ende „alle Poesie [...] ihrem Wesen nach ‘anthropomorphistisch’” ist und man sich von ihr sagen lassen kann, „was wahr ist und was nicht“, was „wirkliches Menschsein“ bedeutet10, ist sie für ihn das geeignete Mittel, um den Weg zu weisen, auf dem die Krankheit des Intellektualismus sich heilen läßt. Mit den Worten Novalisorientiert er sich an der Vision: „Wenn [...] man in rchen und Gedichten/Erkennt die ewigen Weltgeschichten,/Dann fliegt vor einem geheimen Wort/Das ganze verkehrte Wesen fort“11.

Die Unendliche Geschichteläßt sich als poetischer Versuch begreifen, zur Erkenntnis der „ewigen Weltgeschichtenbeizutragen. Zu dem in ihr dargestellten Phantásien muß man - darin ist sich Michael Ende mit Herrn Koreander einig (vgl. 426f.12) - „ab und zu reisen [...] um dort sehend zu werden, denn dann kann man „zurückkehren in die äußere Realität, mit verändertem Bewußtsein und diese Realität verändern oder sie wenigstens neu sehen und erleben13. Da Bastian diesen Bewußtseinsprozeß durchmacht, kann man davon ausgehen, daß er stellvertretend für alle Menschen in die ,Schule der Phantasiegenommen wird.

1
Der dicke, nicht dem Schönheitsideal seiner Gesellschaft entsprechende Bastian erscheint als das Opfer der Phantasielosigkeit einer öffentlichen Institution, nämlich der Schule. Sie ermöglicht ihm nicht, seinen Mangel durch sportliche oder geistige Leistungen auszugleichen: Aufsatzthemen sind „todlangweilig“ (16), der Naturkunde-, Erdkunde- und Geschichtsunterricht besteht aus Aufzählen (26; 40) und Auswendiglernen (38) von Fakten, und im Religionsunterricht darf man nicht einmal fragen, „ob der Herr Jesus eigentlich auch wie ein gewöhnlicher Mensch gemußt hätte“ (80). Aber auch der Sportunterricht wird so phantasielos betrieben, daß Bastian es weder Lehrern noch Schülern ,zeigen’ kann (55), wie er es gerne wollte.

Um mit Michael Ende zu sprechen, leidet Bastian am „Intellektualismus“ der modernen Welt: Er ist repräsentativ für die heutigen Kinder, an denen in der Schule „Seelenmord“ 14 (!) begangen werde.

Zugleich leidet Bastian an der Sprachlosigkeit in seiner privaten Welt, er „konnte mit dem Vater nicht sprechen“ (35). Diese Sprachlosigkeit versucht der Vater dadurch auszugleichen, daß er Bastian die vielfältigsten Konsumartikel kauft (vgl. 54 f.). Doch daraus macht sich Bastian nichts. Seine Leiden im öffentlichen wie im privaten Bereich kompensiert er durch das Bewußtsein, nicht so zu sein wie alle“ (7): „Er mochte keine Bücher, in denen ihm [...] die ganz alltäglichen Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglichen Leute erzählt wurden. Davon hatte er ja schon in Wirklichkeit genug, wozu sollte er auch noch davon lesen?“ (26) Seine „Vorliebe galt Büchern, die spannend waren oder lustig oder bei denen man träumen konnte, Bücher, in denen erfundene Gestalten fabelhafte Abenteuer erlebten und wo man sich alles mögliche ausmalen konnte“ (26). Aber auch das Erfinden von Geschichten ändert nichts an Bastians Situation.

Obwohl Bastian glaubt, er sei etwas Besonderes, ist er Repräsentant all derer, die nach Meinung seines Autors unter den Bedingungen des modernen Lebens leiden. Er leidet unter der „heutigen offiziellen Pädagogik“, die nach Michael Ende „eben wissenschaftsgläubig“ ist15, er ist wie wir „zum Konsum verdammt, weil sonst nichts da ist. Äußerlich haben wir alles, geistig sind wir arme Teufel“16, und er leidet darunter, daß er mit niemandem sprechen kann. Seine Lage ist die vieler Menschen in der modernen Gesellschaft: Tagsüber befinden sie sich in einer geist- und phantasielosen Arbeitswelt, in der abstrakte Leistungen von ihnen verlangt werden, die sie nicht auf ihr konkretes Leben beziehen können, und abends sitzen sie wie Bastian vor dem Fernsehapparat (vgl. 35) und wollen nichts wissen von ihrem trostlosen Alltag, sondern interessieren sich für bunte, fabelhafte und spannende Geschichten, die nicht zum Denken, sondern zum Phantasieren anregen. Michael Ende sagt von Bastian, er müsse „ja überhaupt erst lernen, sich mit seinen Problemen zu konfrontieren“17. Das lernt er in der ,Schule der Phantasie’. Er lernt es stellvertretend für alle, die in einer ähnlichen Lage sind wie er und vermutlich deshalb seine Geschichte so begierig lesen.

Unsere Frage heißt demnach, womit wird Bastian in der ,Schule der Phantasie’ konfrontiert, und was trägt dies zur Lösung seiner Probleme bei.

2
In der ,Schule der Phantasie’ lernt Bastian das Phantasieland Phantásien kennen. Dieses Land ist aber nicht, wie man erwarten könnte, ein Land unbegrenzter Möglichkeiten: Die Möglichkeit, frei von Herrschaft zu sein, ist ausgeschlossen. Diese auffällige Beschränkung auf ein Staatsgebilde legt es nahe, seine Herrschaftsform genauer zu betrachten.

Phantásien ist dargestellt als Kaiserreich mit einer Herrscherin besonderer Art: „Sie herrschte nicht, sie hatte niemals Gewalt angewendet oder von ihrer Macht Gebrauch gemacht, sie befahl nichts und richtete niemanden, sie griff niemals ein und mußte sich niemals gegen einen Angreifer zur Wehr setzen, denn niemandem wäre es eingefallen, sich gegen sie zu erheben oder ihr etwas anzutun. Vor ihr galten alle gleich.“ (34) An diesem Staatsgebilde fällt - verglichen mit ,realen’ Staaten - auf, wie zurückhaltend die Staatsgewalt mit ihrer Macht ist. Diese Macht existiert nur im Potentialis; das Mädchen auf dem Thron verkörpert die Gewißheit, daß der Staat in die Handlungsfreiheit seiner Bürger nicht eingreifen wird. Dieser für alle gleich geltenden Nichteinmischung des Staats in die Belange des Individuums entspricht das Freiheitsbedürfnis der Phantásier, die selbst auf die Gefahr hin, ungeschützt ausgeraubt oder gar totgeschlagen zu werden, nicht nach einem starken Staat rufen; Anlässe dafür gäbe es genug: ,,[...] denn normalerweise war es in Phantásien durchaus nicht so, daß alle Gattungen in Frieden und Eintracht miteinander lebten. Es gab oft Kämpfe und Kriege, es gab auch jahrhundertelange Fehden unter gewissen Arten, und es gab außerdem nicht nur ehrliche und gute Geschöpfe, sondern auch räuberische, bösartige und grausame.“ (21)

Was dieses Phantásien bedeuten soll, läßt sich erst zeigen, wenn man die Staatsform kennt, die Michael Ende vorschwebt: Danach hat der Staat nur die Aufgabe, das Ideal der Gleichheit zu verwirklichen, indem er Gesetze erläßt und für die Gleichheit vor dem Gesetz sorgt.18 Im „Geistesleben“ dagegen - zu dem auch das „Schulsystem“ gehört - habe „uneingeschränkt [!] das Ideal der Freiheit“ zu gelten.19 Phantásien ist also ein Land, in dem der Staat sich so verhält, wie es in Bastians Welt wünschenswert wäre; dieses Land soll sowohl das Ideal eines freien Geisteslebens abbilden als auch verdeutlichen, wie wenig von diesem Ideal in Bastians Welt noch übrig ist.

Deshalb lernt Bastian, daß die Gesundheit Phantásiens abhängt von der Realität, aus der er kommt. Wenn Phantásien früher ein blühendes Land war, so war dies vor dem „Anfang der Neuzeit’’20, also zu einer Zeit, als auch auf Erden noch Kaiser herrschten, die kein Interesse am „Geistesleben“ ihrer meisten Untertanen hatten. Inzwischen aber hat der Staat seine Grenzen überschritten, so daß Phantásien erkrankt ist und im „Nichts“ zu versinken droht. Durch Wissenschaft kann ihm - das versteht sich nach dem oben Ausgeführten - nicht geholfen werden (vgl. 35-37), wenn etwas helfen kann, sind es - unverbildete - Kinder. So tritt das Naturkind Atreju in Aktion; um Bastian vorzuführen, wie bunt und vielgestaltig Phantásien einmal war, wie schön es wieder sein könnte und wie gut es sich dort leben ließe; zugleich soll Bastian aber auch lernen, wie sehr Phantásien bedroht ist, und - das ist noch wichtiger - wer es bedroht. Das kann er nur verstehen, wenn ihm ein Weltbild vermittelt wird.

3
Das Weltbild, das Bastian in der Schule der Phantasie kennenlernt, sieht folgendermaßen aus: Es gibt nicht nur die sichtbare Welt, sondern mehrere Welten, die miteinander in Wechselbeziehung stehen (vgl. 140). Dies läßt sich am Verhältnis zwischen „der Welt der Menschenkinder“ (141) und Phantásien verdeutlichen. Solange die Menschen Phantásien akzeptierten, konnten sie „Schein und Wirklichkeit“ (142) noch unterscheiden. Inzwischen haben die Menschen sich jedoch verändert. Sie glauben nicht mehr an die Existenz Phantásiens (vgl. 143) und sind dadurch dabei, es zu vernichten. Diese Vernichtung hat deshalb fatale Folgen, weil mit dem Land Phantásien nicht auch die Wesen Phantásiens vernichtet sind, vielmehr werden diese zu Lügen, die „die Seelen der Menschen mit ihrem Modergeruch vergiften“ (143). Da die Menschen für ihre Phantasie keinen Raum mehr haben, wenden sie sie auf ihre eigene Welt an und machen sich dabei unglücklich: Die ehemaligen Bewohner Phantásiens „werden zu Wahnideen in den Köpfen der Menschen, zu Vorstellungen der Angst, wo es in Wahrheit nichts zu fürchten gibt, zu Begierden nach Dingen, die sie krank machen, zu Vorstellungen der Verzweiflung, wo kein Grund zum Verzweifeln da ist“ (143). Man könnte auch so sagen: Die Menschen leugnen den Mythos; weil sich dieser aber nicht unterdrücken läßt, erscheint er nun vor allem in Formen der Angst.

Bastian erfährt aber nicht nur etwas darüber, wie die Menschen seelisch krank werden, sondern auch die Ursache dafür, warum sie „bezweifeln, was sie erretten könnte“ (144), warum sie also nicht mehr an Phantásien als Heilmittel glauben. Diese Ursache hat nichts, wie man annehmen müßte, mit der geschichtlichen Entwicklung, der Emanzipation des menschlichen Bewußtseins zu tun, sondern ist eine ominöse „Macht“ (144), die die „Vernichtung Phantásiens beschlossen“ hat (147). Ohne daß dafür Gründe angegeben würden, hat diese „Macht“ ein Interesse daran, Gewalt über die Menschen zu haben, mit Hilfe von Lügen und Illusionen die Menschen zu lenken. In der Menschenwelt erscheint diese „Macht“ als „man“: Dieses „man“ kann „Menschen dazu bringen, zu kaufen, was sie nicht brauchen, oder zu hassen, was sie nicht kennen, zu glauben, was sie gefügig macht oder zu bezweifeln, was sie erretten könnte“; deshalb und auf diese Weise „werden in der Menschenwelt große Geschäfte gemacht  [!], werden Kriege entfesselt [!], werden Weltreiche begründet [!] ... “ (144).

Durch die Vermittlung dieses Weltbildes erfährt Bastian, in welchen gigantischen Zusammenhängen er sein eigenes Leiden sehen muß und was ihm noch bevorstehen kann, wenn er dem Einfluß des „man“ sich nicht zu entziehen vermag.

Dieses „man“ ist ein Sammelbegriff für die „Diener der Macht“ (144); exemplarisch wird ein solcher Diener, der seinen Auftraggebern blind gehorcht, vorgeführt an der Figur des Werwolfs Gmork. Er ist ein Zwitterwesen, das sich zwischen den Welten bewegt: In Phantásien erscheint er als phantásisches Wesen, unter den Menschen als Mensch, ohne einer zu sein (vgl. 140). In Gmorks verzweifeltem und trostlosem Klagelaut liegt „alle Verlassenheit, alle Verdammnis der Geschöpfe der Finsternis“ (137). Falls Bastian gehört hat, wie nach christlichen Vorstellungen Luzifer verdammt und in die Finsternis geworfen wurde, hat er hier eine Anschlußstelle für alles, was er aus Phantásien über die Schlechtigkeit seiner Welt erfährt. Das Denken, das nichts mehr von Phantásien halten will, ist dann mit dem Intellektualismus, dem es entstammt - wahrscheinlich vom Teufel. Und wie man die Kinder des Bösen nicht äußerlich erkennt, kann prinzipiell jeder ein „Geschöpf der Finsternis“ sein, so daß Mißtrauen gegenüber jedermann die geeignete Verhaltensweise wäre (vgl. 140). Denn wie Satan verstehen sich auch die Geschöpfe der Finsternis „auf Seelenfinsternisse aller Art“ (139).

Bastian lernt also, daß er sich in einem heilsgeschichtlichen Kosmos bewegt, wo der Kampf zwischen Licht und Finsternis ausgetragen wird und wo repräsentativ das Reich der unschuldigen, in weißer Seide und mit schneeweißem Haar erscheinenden (vgl. 160) kindlichen Kaiserin vernichtet werden soll.

Während also früher, als Kaiser von Gottes Gnaden herrschten, wohl jedes Kind, auch wenn es, wie üblich, in keine Schule ging, wußte, daß Gott und Teufel, das Gute und das Böse um seine Seele ringen, muß Bastian dies erst wieder lernen; schließlich ist er bereit, gegen die Macht der Finsternis zu kämpfen. Der Schritt nach Phantásien wird Bastian durch folgende Versprechungen der kindlichen Kaiserin erleichtert: „Alle, die bei uns waren, haben etwas erfahren, was sie nur hier erfahren konnten und was sie verändert zurückkehren ließ in ihre Welt.“ (168) Und speziell an Bastian, der nichts von „alltäglichen Begebenheiten“ (26) wissen will, ist die Ankündigung gerichtet: „Wo sie vorher nur Alltäglichkeit gefunden hatten, entdeckten sie plötzlich Wunder und Geheimnisse.“ (168) Auf diese Aspekte wird bei der Analyse von Bastians Erfahrungen in Phantásien zu achten sein.

4
Während Bastian in der ersten Lektion der ,Schule der Phantasie’ Rezipierender war, ist er nun so weit fortgeschritten, daß er im Geiste oder Traum seine Phantasie ausleben darf. Er soll eine Welt bauen, die aus seinen eigenen Wünschen hervorgeht.

Gegen Ende des Buches formuliert der Erzähler folgende Theorie der Wünsche: „Wünsche kann man nach Belieben weder hervorrufen noch unterdrücken. Sie kommen aus tieferen Tiefen in uns als alle Absichten, mögen diese nun gut oder schlecht sein. Und sie entstehen unbemerkt.“ (371) Dies soll wohl im Nachhinein den Eindruck suggerieren, Bastians Wünsche seien vorbewußten Schichten seiner Psyche entsprungen und hätten mit seiner Erfahrungswelt nichts zu tun. In Wirklichkeit jedoch sind diese Wünsche so allgemein wie die Frustrationen, denen sie entstammen.

Die Erfüllung von Bastians erstem Wunsch läßt sich auffassen als Kompensation erotisch-sexueller Frustrationen und Repressionen. Seine Wunschphantasie könnte ein Sexualtraum sein, in dem es von Bildern männlicher Potenz nur so wimmelt: „Knospen“ (195), „Schachtelhalme“ (195), „Pinsel“, „Gewächse“, die „aufgespannten Regenschirmen von violetter Seide“ gleichen (196) und derartiges mehr bilden den Wald Perelín. Bastian will der „Stärkste“ sein, „den es überhaupt gab“ (201), er tobt sich satt (vgl. 201), verschafft sich Durchgang durch dichtes Rankengestrüpp“ (202) und arbeitet sich schließlich an einem unvorstellbar großen, phallusähnlichen Stamm empor, der in einer riesengroßen, dunkelrot leuchtenden Blüte endete“ (202).

Die nächsten Wünsche Bastians entspringen den von seiner sozialen Situation verursachten Minderwertigkeitskomplexen: Er will schön und mutig sein. Während ihm diese Wünsche noch verhältnismäßig problemlos gewährt werden, wird seine Lage sehr viel komplizierter, sobald er beginnt, die neuen Qualitäten seiner Person in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen.

Als Bastian den Amargánthern ihre Geschichte erzählt, erschafft er - wohl unbewußt - eine Gesellschaft, in der die Häßlichsten auch die sozial Niedrigsten darstellen (vgl. 259). Obgleich die Acharai für das schöne und freie Leben der ,Oberen’ unter Tage arbeiten und dadurch die Silberstadt Amargánth überhaupt erst ermöglichen, sind sie ideologisch so angepaßt, daß sie ihr „Dasein“ als „Schuld“ (280) begreifen und sich dafür schämen. Mit dem Versuch, die unglücklichen Geschöpfe durch eine „gute Tat“ (281) aus ihrer sozialen Lage zu befreien, indem er die „Acharai, die Immer-Weinenden“ in „Schlamuffen, die Immer- Lachenden“ (281) verwandelt, macht sich Bastian geradezu lächerlich: Die lachenden Schlamuffen sind in der freien Luft viel unglücklicher als die weinenden Acharai unter Tage waren (vgl. 409). Genau besehen leiden sie an der durch die Befreiung erlangten Freiheit: „Wir wollen, daß du uns Befehle gibst, daß du uns herum kommandierst, daß du uns zu irgend etwas zwingst, daß du uns irgend etwas verbietest! Wir wollen, daß unser Dasein zu irgend etwas da ist!“ (408) Insgesamt ergibt sich daraus, daß es für alle vorteilhafter sei, wenn man sich nicht für das Elend anderer interessiert oder gar deren Lage verbessern will, da es massenhaft Geschöpfe gibt, die nur glücklich sind, wenn man sie „herumkommandiert“.

Darüber hinaus lernt Bastian, daß der einzelne, der sich gesellschaftlich engagiert, Gefahr läuft, nur noch an sich zu denken und die eigene Willkür (vgl. 347) absolut zu setzen. Dementsprechend strebt er bei der „Schlacht um den Elfenbeinturm“ (vgl. 337-357) nach usurpatorischer Herrschaft. Vor lauter Egoismus mißachtet Bastian alle gesellschaftlichen und freundschaftlichen Bande und handelt wie ein Unmensch, der alles, was außer ihm existiert, vernichten will und dabei Phantásien in ein Chaos verwandelt. Bastian soll an sich selbst erfahren, daß derjenige, der Gesellschaftsveränderungen hervorbringen will, Verführungen der finsteren Macht, wie sie in Xayíde personifiziert ist, Gehör schenkt und dadurch Phantásien zerstört.

So wird Bastian in einer Art Schocktherapie beigebracht, wie lächerlich er war, als er glaubte, man brauche nur seine Phantasie zu benützen und schon sei man weise oder ein wohltätiger Herrscher. In der ,Schule der Phantasie’ lernt Bastian, daß weder Phantásien noch seine eigene Welt durch Phantasie zu retten sind, daß er seinen wahren Willen nur finden kann, wenn er von aller Phantasie geheilt ist.

Auf der letzten Etappe seines Phantásienaufenthaltes geht es für Bastian nur noch darum, mit dem geringstmöglichen Aufwand an Eigenphantasie und Eigeninitiative sich selbst aus Phantásien und dem dort enthaltenen Irrsinn der Alten Kaiserstadt zu retten. Auf diesem letzten Weg wird Bastian bei den Yskálnari (vgl. 372-378) auch noch die Vorstellung ausgetrieben, eine Gesellschaft, in der der einzelne in der Gemeinschaft aufgeht, könne glücklich sein.21 Und selbst dem Wunsch, „so geliebt zu werden, wie er war“ (377), wird der Garaus gemacht. Damit sein „Wahrer Wille“ (394) zum Vorschein kommen kann, muß Bastians Bedürfnis nach „Fürsorge und Zärtlichkeit“ (393) sterben. Dann erwacht in ihm „ein Verlangen [...] das sich in jeder Hinsicht von all seinen bisherigen Wünschen unterschied: Die Sehnsucht, selbst lieben zu können“ (393f.). Erst als Bastian lernt, daß das Bedürfnis nach „Zärtlichkeit“ und die „Sehnsucht, selbst zu lieben“, in „jeder Hinsicht“ (!) nichts miteinander zu tun haben, kann er durch die Großzügigkeit der „Wasser des Lebens“ gerade noch in die Normalität der Menschenwelt entwischen (vgl. 418).

5
Was hat sich nun für Bastian durch den Lehrgang in der ,Schule der Phantasie’ geändert? Sein äußeres Erscheinungsbild sowie sein Verhältnis zu Lehrern und Mitschülern dürften keine Bedeutung mehr für ihn haben. Von sozialem Engagement und Politik wird Bastian die Finger lassen, besonders nachdem ihm die Schlamuffen kurz vor seinem Abschied aus Phantásien vorgeführt haben, in welches Unglück er sie, aber auch die Silberstadt Amargánth, die ohne die Acharai „auf dem Trockenen“ sitzt (409), durch seine politische Phantasie gebracht hat. Das Alltägliche „ganz alltäglicher Leute“ (26) wird ihm also weiterhin gleichgültig sein. Sobald Bastian jedoch vor etwas Angst hat, kann er sich einreden: „Für einen, der Herr von Perelín gewesen war, [...] [gibt] es hier überhaupt kein Problem“ (421). Insofern wurde er gestählt, die Leiden seiner Welt besser zu ertragen.

Michael Ende sagt, Bastians Flucht nach Phantásien sei notwendig, weil sie ihn verwandle und „ihm ein neues Selbstbewußtsein“ gebe, „das ihn fähig macht, die Welt in Angriff zu nehmen“22. So sei es Bastian gelungen, die „Angstschwellen“ gegenüber seinem Vater und gegenüber Herrn Koreander zu überschreiten, „und damit Schluß. Wie es nun weitergeht, ist eine andere Geschichte und müßte wirklich ein andermal erzählt werden“23. Es ist aber nicht uninteressant, diesen „Schluß“ etwas genauer zu betrachten und zu fragen, ob es Bastian wenigstens gelingt, seine private Welt „in Angriff zu nehmen“.

Während Bastians Abwesenheit hat sein Vater „das Schlimmste befürchtet“ und „die Polizei losgeschickt“ (422). Aufgrund dieser Sorge hört er Bastian nun zu, „wie er ihm noch nie zugehört“ hat (422). Bastian ist also in seine alte Rolle des Geschichtenerzählers geschlüpft (vgl. 136) und hat einen neuen Zuhörer gefunden. Dieser Zuhörer ist über Bastians Lernprozeß, der ihn einzig und allein zu seinem Vater führt, so gerührt, daß ihm lange die Sprache wegbleibt. Endlich „atmete der Vater tief auf, schaute Bastian ins Gesicht und begann zu lächeln. Es war das glücklichste Lächeln, das Bastian je bei ihm gesehen hatte. ‚Von jetzt an [...] wird alles anders werden mit uns, meinst du nicht?’“ (422)

Am anderen Tag werden einige Perspektiven dieses neuen Lebens aufgezeigt: Der Vater schlägt vor, daß sie „beide zusammen was ganz Großartiges unternehmen“ und sich einen „Festtag“ machen. „,Wir könnten irgendeinen Ausflug machen, oder wollen wir in den Tierpark fahren? Mittags leisten wir uns das großartigste Menü, das die Welt je gesehen hat. Nachmittags könnten wir einkaufen gehen, alles was du willst. Und abends - sollen wir abends ins Theater?’ Bastians Augen glänzten.“ (423)

Dieser Programmvorschlag, der aus dem Werbeprospekt einer beliebigen Stadt der westlichen Welt stammen könnte, ist das Ergebnis der existentiellen Erschütterung durch Bastians Geschichte. Vor lauter Konsumbegeisterung kann sich der Vater nicht mit einem großartigen Menü begnügen, sondern es muß das großartigste sein, das die Welt je gesehen hat. Gibt es irgendwelche Gründe dafür, daß Vater und Sohn nun offener miteinander sprechen als zuvor, wenn der Vater seinen Sohn so wenig ernst nimmt, daß er glaubt, ihm nur dann imponieren zu können, wenn er den Imperativ Auryns, „Tu, was du willst“ (199), uminterpretiert in das Versprechen, ,alles, was du willst, kann ich dir kaufen’. Und Bastians glänzende Augen weisen darauf hin, daß er in Phantásien vor allem gelernt hat, den Konsum, zu dem wir nach Michael Ende alle verdammt sind24, mit begeisterter Zustimmung zu sehen. Das Geld seines Vaters ist es, das die Alltäglichkeit in Wunder und Geheimnisse verwandelt. Gemessen an Phantásien lebt Bastian in der besten aller möglichen Welten, in der es nur darauf ankommt, der sein zu wollen, der man ist, und soviel zu verdienen, daß man sich alles kaufen kann, was man sich wünscht.

Von den Möglichkeiten her gesehen, die Phantásien bietet, wäre es denkbar gewesen, daß Bastian dort gelernt hätte, wie kreativ der Mensch sein könnte, wenn er seine Geisteskräfte frei entfalten dürfte, wenn Phantasie statt abstraktes, wissenschaftliches Denken das Handeln bestimmten. Daß die Geschichte nicht diesen naheliegenden Verlauf nimmt, ist also besonders bedeutend. Der ganze phantastische Aufwand wird getrieben, damit zweifelsfrei vor Augen steht, daß ein so phantasiehungriger Mensch wie Bastian, der wegen der eingeschränkten Phantasiemöglichkeiten seiner Welt unglücklich ist, lernen muß, seine Phantasie abzutöten und sich anzupassen. „Er war neu geboren. Und das schönste war, daß er jetzt genau der sein wollte, der er war.“ Seine Phantasie ist so abgestorben, daß der Erzähler fortfährt: „Wenn er sich unter allen Möglichkeiten eine hätte aussuchen dürfen, er hätte keine andere gewählt.“ (416)

Bastian ist also kaum in der Lage, nach seiner Rückkehr aus Phantásien „in die äußere Realität“25 diese Realität zu verändern und zu erobern, und wenn er sie ,neu sieht’, so sieht er sie jetzt unter dem Einfluß einer Kultur- und Bewußtseinsindustrie, die dafür sorgt, daß Glückserwartungen und Glücksstreben der Menschen im Interesse der jeweils herrschenden Ideologien funktionieren. Bastian macht sich zwar, wie Michael Ende es für „lebensnotwendig“, ja „überlebensnotwendig“ hält, „ein positives Bild von der Welt“, in der er leben möchte“26, aber es ist die Welt der Reiseprospekte und Warenkataloge. Bis ins hohe Alter, auch „in den schwersten Zeiten seines Lebens blieb ihm eine Herzensfrohheit, die ihn lächeln machte und die andere Menschen tröstete“ (416). Obwohl also der Erzähler zu wissen vorgibt, wie es mit Bastian bis ins hohe Alter weitergegangen ist, berichtet er davon nichts. Dazu brauchte er eine Phantasie, die sich nicht in einer imaginären, d. h. widerstandsfreien Welt entfaltet, sondern die dem Leser bekannte Wirklichkeit konkret als veränderbare denkt.

6
Jedoch ist „Die unendliche Geschichte“ nicht nur eine ,Schule der Phantasie’ für Bastian, sondern auch für den Leser. Dieser liest das Buch als AURYN (vgl. 37), das „wie ein geheimnisvoller Kompaß“ auch „seinen Willen, seine Entschlüsse in die rechte Richtung“ lenken soll (129). Er kann wahrnehmen, daß in diesem Buch nicht nur behauptet wird, der wahre Wille sei es, zu lieben, sondern daß es zugleich darstellt, was unter solcher Liebe zu verstehen ist. Das Demonstrationsobjekt dieser Liebe ist Atreju, und es soll jetzt gefragt werden, was der Leser von diesem Musterbild Phantásiens lernen kann.

Atreju erklärt sich bereit, eine fast unmögliche Aufgabe zu übernehmen. Nach seinem „Ich will“ (43) zählt seine „eigene Meinung“ nicht mehr. „Du mußt geschehen lassen, was geschieht. Alles muß dir gleich gelten, das Böse und das Gute, das Schöne und das Häßliche, das Törichte und das Weise [...] Du darfst nur suchen und fragen, aber nicht urteilen nach deinem eigenen Urteil.“ (43) Es ist „ihm nicht erlaubt, aufzugeben“ (66), „seine eigenen Wünsche zählten nicht“ (73). Der wunschlose Atreju ist also bereits am Anfang so weit wie Bastian am Ende der Geschichte. Aber schon im Verlauf der Erzählung spricht Bastian aus, wie derjenige denkt, der sich mit der Idealfigur Atreju identifiziert: „,[...]Was ich angefangen habe, muß ich zu Ende führen. Jetzt bin ich schon zu weit gegangen, um noch umzukehren. Ich kann nur noch weitergehen, was auch daraus werden mag.‘ Er fühlte sich sehr einsam, und doch war in diesem Gefühl zugleich so etwas wie Stolz, Stolz darauf, daß er stark geblieben war und der Versuchung nicht nachgegeben hatte. Ein ganz klein wenig Ähnlichkeit hatte er doch wohl mit Atreju!“ (66 f.)

Bastian hat hier aber nicht nur Ähnlichkeit mit Atreju, sondern mit jedem, der stolz darauf ist, ,weitergegangen’ zu sein, wo er vernünftigerweise hätte umkehren müssen. Als extremes Beispiel kann jeder Angehörige von Hitlers Waffen-SS fungieren, der daran glaubte, daß Hitler berufen sei, die Welt vom Intellektualismus - damals war es der ‚jüdische‘ - zu heilen. Auch dort galt die Parole, weiter zu gehen, „was auch daraus werden mag“ („wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt“27), und kam es darauf an, stark zu bleiben und der „Versuchung“ der Vernunft zu widerstehen. Der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, war stolz darauf, daß seine Leute bei der „Ausrottung des jüdischen Volkes“ bedingungslos durchgehalten haben: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei [...] anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“28

Auch bei Hitler selbst ist bedingungsloser Gehorsam das Mittel, um gegen den für ihn so gefährlichen Intellektualismus anzugehen: „Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen.29

Demgemäß lernt Bastian von Atreju: „Aber heimgehen - nein, er konnte es nicht. Lieber sterben!“ (132)30

Das von der Idealgestalt Atreju verkörperte Modell der selbstlosen Aufopferung ist zugleich der Inhalt des in der „Unendlichen Geschichte“ dargestellten Liebesbegriffs. Als Atreju im zweiten Teil, wo er durch keinen Auftrag mehr gebunden ist, vorführt, was Liebe und Freundschaft bedeuten kann, läßt er sich weniger leiten von den Wünschen Bastians als von der Idee, Bastian sei berufen, die Welt zu retten, und deshalb müsse dieser, koste es, was es wolle, wieder in die Menschenwelt zurück. Aus selbstloser Liebe kommt es zu folgender Situation: „Atreju kämpfte nicht für sich, sondern für einen Freund, den er besiegen wollte, um ihn zu retten.“ (355) Er riskiert seiner Freundschaft wegen, daß er den Freund tötet.

Was in diesem Buch Liebe bedeutet, zeigt sich am deutlichsten vielleicht dort, wo Atreju dadurch Bastian die Rückkehr in die Menschenwelt ermöglicht, daß er für ihn einsteht und für ihn die fast unmögliche Aufgabe übernimmt, alle Geschichten, die Bastian angefangen hat, zu Ende zu erzählen (vgl. 418). Bastians Empfinden, während er die Wasser des Lebens trinkt, könnte ein Kommentar zu dieser Liebestat sein: „Es gab in der Welt tausend und tausend Formen der Freude, aber im Grunde waren sie alle eine einzige, die Freude, lieben zu können.“ (416) Wer sich Atrejus Liebe zum Vorbild nimmt, muß seine ganze Freude aus dem Bewußtsein schöpfen, daß er für andere oder eine große Idee die Möglichkeit aufgegeben hat, selbst zu leben und selbst geliebt zu werden.

Der Liebesbegriff, den der Leser in dieser ,Schule der Phantasie’ lernen kann, ist keine neue Botschaft, sondern entspricht allen Formen, in denen Menschen aus Liebe für Gott, König, Volk und Vaterland, für die Idee der freien Marktwirtschaft oder des Sozialismus ihr Leben aufopfern, oder wo sie um des Himmelreiches oder des Nächsten willen in stummer Hingabe an sich selbst und ihre eigenen Entfaltungsmöglichkeiten zuletzt denken. Die Menschengeschichte zeigt, daß Menschen, solange sie bereit sind, sich aufzuopfern, auch aufgeopfert werden.31

In der „Unendlichen Geschichte“, wo so großer Wert auf Liebe gelegt wird, fehlen alle Dimensionen, die unter Liebe eine Gesellschaftsform verstehen, in der Menschen einander ohne Mißtrauen begegnen, wo die Beziehungen unter ihnen keine Gewaltverhältnisse sind, wo die Menschen Sprache haben und sie dazu gebrauchen, miteinander gewaltfrei zu sprechen.

7
Durch meine Ausführungen sollte deutlich werden, welche Welt- und Wertvorstellungen in einem Leser gestärkt werden, der „Die unendliche Geschichte“ mit Begeisterung aufnimmt und unter dieser lernpsychologisch günstigen Voraussetzung sich mit den Hauptfiguren der Handlung identifiziert.

Michael Ende erhofft sich - das wurde oben schon bemerkt - die Rettung der Welt vom „modernen Intellektualismus“ durch die Poesie. Wie sich aber zeigt, ist Poesie bei ihm keine Möglichkeit, mit Hilfe poetischer Sprache einen Aspekt der Wirklichkeit zu erfassen und ihn ins Bewußtsein zu heben, sondern das Verpackungsmaterial für seine ideologischen, auch ohne poetische Sprache mitteilbaren Rezepte zur Heilung der Welt.32

Danach ist für die Rettung der Welt keine wissenschaftliche, sondern eine „religiöse“ Fragestellung nötig, nämlich die „Frage nach der Wirklichkeit einer ganz konkreten [!] geistigen Welt, die mit der äußeren physischen Welt in einem erlebbaren und erfahrbaren Zusammenhang steht“33. In dieser geistigen Welt gibt es nach Michael Endes Überzeugung andere Kräfte und Mächte, die hilfreich in die physische Welt eingreifen, wenn es nötig ist: „Das gibt es [!] aber in der Welt, daß die rettenden Bedingungen plötzlich geschaffen werden durch Schicksalsgunst [!] [...]Etwas wird möglich, was bis dahin unmöglich schien.“34

Hier haben wir die religiöse Ideologie formuliert, die als Dualismus von Schwarz und Weiß, Böse und Gut den Hintergrund der „Unendlichen Geschichte“ bildet und die Handlung des Buches in einem heilsgeschichtlichen Kosmos erscheinen läßt. Wenn irgendwelche geistigen Kräfte das Geschehen in der physischen Welt bestimmen und nach Belieben plötzlich die rettenden Bedingungen schaffen können, die etwas unter rationalem Aspekt Unmögliches möglich machen, also Wunder tun, ist es ganz konsequent, daß Michael Ende sagt: „Wißt ihr, an irgendeiner Stelle wird es sinnlos, weiterzufragen.“35 Erst als Bastian immer stummer und einsamer wird, als er im Dunkel seiner Träume nach dem Sinn seines Lebens sucht, erst als es schließlich von ihm heißt: „Der Junge ohne Namen blieb stumm“ (414) und Atreju wie der Pate bei der Taufe für ihn spricht, wird durch „Schicksalsgunst“ das Wunder möglich, daß Bastian trotz der unmöglichen Bedingungen gerettet wird. Und letztlich ist auch das Böse eine Kraft, die ‚stets das Gute schafft‘: Der Werwolf Gmork, als Vertreter des Bösen, hält dadurch, daß er ihm Böses tun will, Atreju so fest, daß er vor dem Abgrund gerettet werden kann (vgl. 153).

Das Weltbild Michael Endes ist mythisch: ,,[...]ohne irgendeine Art von Idealbild, von Heldenbild gibt es keinen Mythos und ohne Mythos keine Kultur. Gerade wir [?] brauchen irgendwelche Idealbilder, die unserem Bewußtsein, unserer Welt entsprechen“36. Und ein idealer Held muß etwas riskieren: „Gerade die Lust zum Risiko ist etwas, das zum Lebenspathos des Menschen gehört und was der Mensch auch will und braucht.“37 „Bastian macht ja reichlich Fehler, eigentlich macht er fast nur Fehler, aber gerade deshalb [!] hat er dann am Schluß alles richtig gemacht.“38 Man muß sich vorstellen, welche Konsequenzen ein solcher Heldenbegriff als Idealbild hat, wenn in das Bewußtsein der Leser die Vorstellung aufgenommen wird, es dürfe alles riskiert werden, es dürften andere Menschen wie bei der „Schlacht um den Elfenbeinturm“ hingeschlachtet werden, am Schluß werde durch „Schicksalsgunst“ der Held für alle Untaten entschuldigt.

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Aufgrund des Verkaufserfolgs der „Unendlichen Geschichte“ und der zustimmenden Begeisterung, die sie bei ihrem Publikum auslöst, kann man davon ausgehen, daß dieses Buch eine Art literarische Ikonographie der geheimen Sehnsüchte unserer Gesellschaft darstellt. Ich habe zu zeigen versucht, daß dies kein Grund zur Freude ist, und möchte zum Schluß noch einige Fragen stellen, die sich auf das bisher Gesagte beziehen:

Wer verfügt über die Realität, wenn man eine ganze Generation junger Menschen in dem Glauben bestärken kann, Phantasie habe mit dieser Realität wenig zu tun, und wenn diese Menschen mit Bastian und Michael Ende der Meinung sind: „Die Wirklichkeit gibt’s ja schon und hundertmal wirklicher als jede Abbildung.“39 Wie soll „eine wirklichkeitsvollere [...] Art des Denkens“40 möglich sein, wenn die Wirklichkeit aus diesem Denken verbannt ist, weil sie als bekannt vorausgesetzt wird?

Geht Michael Ende nicht von falschen Prämissen aus, wenn er glaubt, die Inhumanität in der Welt sei eine Folge des Intellekts, der auf Kosten des Emotionalen und Magischen überhand genommen habe? Denn werden die Menschen durch die Bewußtseinsindustrie nicht vor allem emotional beeinflußt, und eignen sie sich ihre Weltbilder und Verhaltensmaximen, ihre moralischen Wertvorstellungen nicht eher spielend aus fiktiven Geschichten und Filmen an, als daß sie sich auf mühsames intellektuelles Denken einließen? Wäre es nicht richtiger, statt die Manipulationen und Verführungen des Menschen durch Illusionen und Lügen einer imaginären Macht zuzuschreiben, vor der man sich durch Versenken in Bücher wie „Die unendliche Geschichte“ bewahren kann, den Verstand des Menschen zu stärken, damit er diese Verführungen zu durchschauen lernt?

Könnte Michael Ende davon sprechen, daß der Mensch in der Welt wieder „heimisch“ gemacht werden müsse41, wenn er die Geschichte der Menschheit berücksichtigte? Inwiefern sollen zum Beispiel die Menschen vor der Neuzeit, als Könige und Priester in Gottes Namen fast alles mit ihnen machen konnten, glücklicher gewesen sein? Hatten die Hexenverbrennungen - um ein extremes Beispiel grausamer Menschenverachtung zu nennen, die vor der „Neuzeit“ stattfanden - keine „anthropomorphistischen [...] Weltvorstellungen“42 zur Voraussetzung? Kann man sich eine größere Einschränkung des „Geisteslebens“43 denken als unter der Herrschaft einer Inquisition?

Wird die „Geschichte der Menschheit mit ihren [...] Kämpfen und Leiden“44 dadurch sinnvoller, daß ich sage, ihren Sinn erhalte sie in einem religiösen Zusammenhang? Muß man wirklich davon ausgehen, daß die Welt deshalb schlecht ist, weil in den Köpfen der Menschen keine religiösen Sinnzusammenhänge wären?

Widerspricht Michael Ende sich nicht, wenn er einerseits gegen die Ungeheuerlichkeit angehen will, daß 400 000 Wissenschaftler mit Vernichtungswaffen beschäftigt sind45, und er andererseits die Vorstellung verbreitet, „an irgendeiner Stelle wird es sinnlos weiterzufragen“, „da setzt bei mir einfach eine Art Gottvertrauen ein. [... ]Ich kann einfach nicht glauben, daß das, was wir jetzt erreicht haben, schon das Ende der Menschheitsgeschichte sein soll“46, wenn er also hofft, daß göttliche Kräfte dann weiterhelfen, wenn es der Mensch nicht mehr tut? Wie weit muß man es kommen lassen, wenn zum Beispiel Millionen umgebrachter Juden und überhaupt die Toten und Greuel der Weltkriege für die der Menschheit wohl gesonnenen Kräfte noch kein Anlaß waren einzugreifen? Werden die Vernichtungswaffen nicht eher durch Menschen aus der Welt geschafft, die ihre Phantasie nicht für einen imaginären Raum reservieren, sondern die Einbildungskraft ihres Verstandes auf die Wirklichkeit richten und der Frage nachgehen, welchen Interessen die Vorstellung nützt, der Mensch sei für den Menschen ein Wolf, vor dem man sich nur schützen kann, wenn man über die Gewalt eines ,,40-fachen Overkill“47 verfügt?

Was spricht aufgrund des durch „Die unendliche Geschichte“ vermittelten Weltbildes dafür, daß der Satz Immanuel Kants nicht mehr gelte, Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, und daß diese Unmündigkeit durch den Gebrauch des „eigenen Verstandes“ überwunden werden könne48? Kann Michael Endes Plädoyer für den Mythos etwas Überzeugendes dem Bewußtsein entgegensetzen, der Mensch habe die Fähigkeit, die Welt so zu denken und zu gestalten, daß in ihr mündige Menschen leben, die nicht auf Gewalt, sondern auf Sprache bauen, die sich von mythischer Vormundschaft durch ein Geschichtsbewußtsein befreien und wissen, daß sie ihre Verantwortlichkeit gegenüber Mitmenschen und gegenüber künftigen Generationen auf nichts abwälzen können und daß ihnen niemand hilft, wenn sie es nicht selber tun?

Was also spricht für die ,Schule der Phantasie’ in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“?

1 Vgl. Andreas von Prondczynsky, Die unendliche Sehnsucht nach sich selbst: auf den Spuren eines neuen Mythos. Versuch über eine „Unendliche Geschichte“. Frankfurt a. M.: dipa 1983, S. 93. - Dies ist eine sehr informative und kritische Abhandlung über Traditionszusammenhänge, in denen die „Unendliche Geschichte“ gesehen werden kann.
2 Michael Ende, Literatur für Kinder? In: Neue Sammlung 21, 1981, S. 310-316 (künftig zit.: Ende, Literatur).
3 Ebd., S. 314.
4 Ebd., S. 312.
5 Ebd.,S.314.
6 Ebd.,S.315.
7 Ebd.,S.312.
8 Ebd., S. 310.
9 Ebd., S. 312.
10 Ebd.,S. 316.
11 Ebd.
12 In Klammern gesetzte Ziffern bezeichnen Seiten aus: Michael Ende, Die unendliche Geschichte. Stuttgart: Thienemanns 1979.
13 Michael Ende, Erbard Eppler und Hanne Tachl, Phantasie/Kultur/Politik. Protokoll eines Gesprächs. Stuttgart: Edition Weitbrecht 1982, S. 124 (künftig zit.: Ende, Phantasie).
14 Ende, Literatur, S. 315.
15 Ende, Phantasie, S.33
16
Ebd., S. 22
17 Ebd., S. 38
18 Vgl. ebd., S.43.
19 Ebd., S.43.
20 Ende, Literatur, S. 312.
22
Ende, Phantasie, S. 38.
23
Ebd.

24 Vgl. ebd., 5.22.
25 Ebd., S. 124.
26 Ebd., S. 22 f.
27
Hans Baumann, Es zittern die morschen Knochen. Zit. nach Ernst Loewy, Literatur unterm Hakenkreuz. Das dritte Reich und seine Dichtung. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M.: Fischer 1969, 5. 253.
28 Walter Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945. Frankfurt a. M.: Fischer 1960, S.114.
29 Ebd., S. 88.
30 Damit wird Michael Ende nicht unterstellt, daß er bewußt faschistisch denke. Auch unabhängig von der Intention seines konkreten Autors kann Atreju Ideale verkörpern oder begünstigen, die faschistischem Denken zumindest nicht widersprechen. Um blind gehorchen zu können, braucht man keinen Verstand, und wer rationales Denken durch Mythen ersetzen will, darf sich nicht wundern, wenn seine vorbildlichen Figuren sich analog zu SS-Leuten verhalten, die ja subjektiv - wie das Himmler-Zitat zeigt - höchst anständige Menschen waren.
31 Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Vietnamkrieg, der erst aufhörte, als immer mehr Menschen in der Welt nicht mehr bereit waren, diesen Kampf moralisch und durch die Tat zu unterstützen. Der im Interesse des Friedens verbreitete Slogan „Make love, not war“ verweist darauf, daß es noch einen anderen Liebesbegriff gibt als den der Aufopferung für eine Idee oder ein Ideal. Welche Bedeutung Michael Ende der intellektuellen Auseinandersetzung mit diesem Krieg beimißt, zeigt seine folgende Bemerkung: „Die Sonnenblumen von van Gogh haben aber in Europa vermutlich mehr Bewußtsein geändert als alle Vietnamplakate miteinander.“ (Ende, Phantasie, S.120.)
32 Bastian, der es doch haßte, „wenn er merkte, daß man ihn zu was kriegen wollte“ (26), merkt - vermutlich so wenig wie seine jungen Leser - nicht, wie sehr er durch „Die unendliche Geschichte“ „zu was gekriegt werden“ soll (26).
33 Ende, Phantasie, S.126.
34 Ebd. S.130f.
35 Ebd., S.130.
36 Ebd., S. 39.
37 Ebd., S. 40 (Hervorhebung von Michael Ende).
38 Ebd., S. 42.
39 Ebd., S_ 99.
40 Ende, Literatur, S. 315.
41 Vgl. ebd.
42 Ebd., S.312.
43
Ende, Phantasie, S. 43.
44
Ende, Literatur, S. 312.
45
Ebd., S. 314.

46 Ende, Phantasie, S. 130.
47 Ende, Literatur, S.314.
48 lmmanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riern, Schiller, Wieland: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hrsg. v. Ehrhard Bahr. Stuttgart: Reclarn 1976, S. 9-17, S. 9.

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