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       Zum "Elend unserer Jugendliteratur"

Alwin Binder

Zum „Elend unserer Jugendliteratur“[1]

Kritische Bemerkungen zu Büchern von Peter Härtling, Gudrun Pausewang und Janosch

            ,,[...] hier in dieser Gesellschaft ist immer
            Krieg. Es gibt nicht Krieg und Frieden, es
            gibt nur den Krieg.“ (Ingeborg Bachmann) [2]

Kinder- und Jugendbücher sind beteiligt an der Bewußtseinsbildung junger Menschen. Das betrifft Weltbilder, Ideale, Wertmaximen (Grundsätze), Modelle für den Umgang von Menschen miteinander, Kommunikationsmodelle, aber auch das Verhältnis zu Literatur, indem sich Kindern und Jugendlichen beim Lesen unbewußt die Erwartungen und Kriterien einprägen, die solche Bücher vermitteln und die später die Auswahl und Beurteilung von Literatur lenken.

    Kaum irgendwo kann so unmittelbar veranschaulicht und zum Gegenstand der Diskussion werden, was Menschen an Wertsystemen, die mit Emotionen besetzt sind, im Kopf haben, wie dort, wo man über eine Literatur spricht, zu der sich die Beteiligten zumindest zustimmend verhalten. Alles, was jungen Lesern beim Lesen nicht auffällt, sind ,Muster’, die sie internalisiert haben und die ihnen nicht mehr fragwürdig sind. Aber unbefragt Aufgenommenes kann beim aufmerksamen und kritischen Lesen zum ,VorSchein’ kommen. Es gibt wohl kaum einen produktiveren Deutschunterricht als dort, wo Schüler darüber erstaunen, was an Fragwürdigem ihnen zuvor noch unproblematisch war.

   Einen solchen Unterricht zu gestalten ist dann besonders schwer, wenn es über den Wert des Unterrichtsgegenstandes selbst keine Kontroversen gibt. Denn es hat in diesem Zusammenhang wenig Sinn, den Schülern eine Textauffassung vorzusetzen, die sie selbst nicht als die ihre erfahren haben. Hier ist es zweckmäßig, davon auszugehen und den Schülern zu zeigen, daß fiktive Literatur ,gemacht’ ist, daß alles, Zeiten, Räume, Figuren, deren Sprache und vor allem auch der Erzähler selbst und seine Erzählweise, vom Autor produziert wurde und es zum Beispiel nicht gleichgültig ist, welchen Standpunkt der Erzähler gegenüber seinen Figuren einnimmt, wo er sie zu Wort kommen läßt und wo nicht, ob er an ihrer Stelle spricht, ob er von allen Figuren weiß, was in ihrem Innern vorgeht, oder ob er sich zu einigen distanziert verhält. Dazu gehört auch die Frage, welches der Hauptgegenstand der Erzählung ist, ob andere Beschreibungen des Gegenstandes denkbar wären und welches Rezeptionsverhalten durch die gewählte Darstellung begünstigt bzw. verhindert wird. Ebenso wichtig kann es sein, darüber nachzudenken, welches Publikum der fiktive Erzähler - ausdrücklich oder unausdrücklich - in der Geschichte selbst anspricht, welcher Sprachmuster er sich bedient usw. Wenn die Antworten auf solche Fragestellungen als semantisch bedeutend verstanden werden, dann schaffen sie eine Distanz, die es ermöglicht, die bewußtseinssteuernden Funktionen des ‚Erzählens‘, die beim ‚normalen’, unkritischen Lesen nicht auffallen, in den Blick zu bekommen.

    Die Bücher, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen, sind fast alle anerkannt ,gute‘ Bücher, die Preise bekommen haben und schon jahrelang außergewöhnlich gut verkauft werden. Ich vernachlässige die ,offensichtlichen‘ Qualitäten dieser Bücher, weil sie im Unterricht von selbst zur Sprache kommen, und beschäftige mich mit den mehr verborgenen Aspekten, gegen die dann die bekannten Qualitäten abzuwägen sind.

    Theoretisch unterscheide ich zwischen konkretem und abstraktem Autor und wende mich nur dem letzteren zu, der gedacht ist als konstruierte Instanz, die den analytisch zu ermittelnden Gehalt der Erzählung als die Gesamtheit der Bedeutungsstrukturen, zu der auch der Erzähler gehört, ‚herstellt‘ und damit von der jeweiligen konkreten Rezeption und ihren Bedingungen abhängt.[3] Das heißt, daß der konkrete Autor hinsichtlich des Gehalts der Erzählung keine Autorität ist und daß einer Erkenntnis, die sich aus dem Text begründen läßt, nicht mit dem Einwand begegnet werden kann, daran habe der konkrete Autor nicht gedacht oder nicht denken können, das widerspreche der Intention des Autors.

    In einer Gesellschaft, in der auf subtile Weise viele inhumane Gewaltstrukturen wirksam sind, ist es fast unmöglich, ein allgemein als ,gut‘ bewertetes Buch zu schreiben, in dem sich diese Gewaltstrukturen nicht wiederfinden lassen. Deshalb sind die .besten‘, anerkanntesten Kinder- und Jugendbücher für einen kritischen, also ,Aufklärung‘ intendierenden Deutschunterricht am geeignetsten; sie spiegeln am genauesten wider, was an unbewußten, aber das Handeln und Verhalten bestimmenden Vorstellungen in den Köpfen der Schüler vorhanden ist. Sollte ein konkreter Autor / eine konkrete Autorin darüber erschrecken, was er /sie einem Buch eingeschrieben hat, ohne es zu wissen und zu bemerken, dann kann das nicht als Argument gegen die Richtigkeit einer Textanalyse sprechen.

 

1. Peter Härtling: Oma [4]

Dieses 1975 erschienene Kinderbuch wurde mit dem Deutschen Jugendbuchpreis und dem Wilhelmine-Lübke-Preis ausgezeichnet und enthält – so steht es auf dem Einband – „Die Geschichte von Kalle, der seine Eltern verliert und von seiner Großmutter aufgenommen wird“. Hauptthema des Buches ist es, Großeltern- und Enkel-Generation durch ihre Repräsentanten in eine Konstellation zu bringen, in der es möglich sein soll, daß die Alten die Kinder und die Kinder die Alten besser verstehen. Dazu muß die erwerbende, ,im Leben stehende‘ Generation ,ausgeschaltet‘ werden, was mit Hilfe eines schnell abgetanen Verkehrsunfalls geschieht, so daß Platz für Oma und Kalle wird. Das hat aber zur Folge, daß die Oma an die Stelle der Mutter tritt und sie deshalb in der Geschichte eine Doppelrolle zu übernehmen hat.

    Wie stellt der „Erzähler“[5] nun seine Figur Oma vor, wie verhält er sich zu ihr, und wie verhält er sich zu seinem Leser? Das Buch beginnt:

    Mit siebenundsechzig Jahren ist man alt, behaupten die Leute. Oma bestreitet das. Sie sagte immer - und das sagen eine Menge alter Leute -, man ist so jung, wie man sich fühlt. Oma fühlte sich ziemlich jung. Sie sagte auch, ich bin außen ein altes Weib und innendrin ein Mädchen. Wer sie gut kannte, glaubte ihr das. Oma hatte nicht viel Geld, schimpfte manchmal über die kleine Rente und über ihren verstorbenen Mann, der auch keine Größe gewesen sei, doch sie lachte lieber als daß sie schimpfte. Und sie verstand sich einzurichten. Ihre Wohnung in München war klein und fast so alt wie sie. Die Couch war schon ein paarmal unter zu schweren Gästen zusammengekracht. Der Ölofen war der einzige neue Gegenstand, und mit ihm kam sie nicht zurecht. Sie fürchtete, eines Tages mit ihm in die Luft zu fliegen. Wenn er anfing zu blubbern, redete sie auf ihn ein, als wäre er ein störrischer Esel. Sie redete überhaupt gern mit sich selbst und mit den Sachen, die um sie herum waren. Daran mußten sich Leute, die sie nicht gut kannten, erst gewöhnen. Denn selbst in Unterhaltungen fing sie manchmal an, mit sich selber zu reden, und wenn der andere sie dann erstaunt ansah, schüttelte sie bloß den Kopf, ihn hatte sie ja gar nicht gemeint. (S. 7 f.)

Der Erzähler führt sich ein als jemand, der weiß, was „die Leute“ und „eine Menge alter Leute“ behaupten und sagen, er ist einer, der die Oma im Gegensatz zu anderen Leuten richtig kennt, also ein ziemlich gut informierter Erzähler. Sein Standort ist so nah bei der erzählten Figur, daß er von ihr als „Oma“ spricht, und er vermittelt fast den Eindruck, nicht er, sondern Kalle sei der Erzähler. Dies geschieht durch eine anbiedernde Erzählweise, indem der Erzähler naive Kindersprache simuliert [6] (auf dem Umschlag steht als Lesealter „ab 9“).

    Zugleich beherrscht dieser Erzähler ein rhetorisches Instrumentarium zur ,Verschleierung’ rational erklärbarer Zusammenhänge. Das zeigt sich etwa an dem Satz: „Oma hatte nicht viel Geld, schimpfte manchmal über die kleine Rente und über ihren verstorbenen Mann, der auch keine Größe gewesen sei, doch sie lachte lieber als daß sie schimpfte.“ Wenn der Erzähler Oma über ihre zu kleine Rente schimpfen läßt, so berührt er das Thema der sozialen Gerechtigkeit. Diesen sozialkritischen Aspekt entschärft er dadurch, daß er durch die rhetorische Figur des „semantisch komplizierten Zeugmas“[7] die „kleine Rente“ und „ihren verstorbenen Mann“ auf eine Ebene setzt und diese Beziehung durch die - Komik erzeugende - Antithese von „kleine“ und „Größe“ verstärkt. Die Lösung dieses Problems ist so lustig, daß auch die Oma an solchen Stellen lieber lacht als schimpft. Welche Funktion hat diese komplizierte, mit Hilfe eines Wortspiels erreichte rhetorische Operation? Die Möglichkeit, die kleine Rente als ein gesellschaftspolitisches Problem zu sehen, wird eingeschränkt durch den versteckten Hinweis, Schuld daran sei der verstorbene Mann, weil er keine „Größe“ gewesen sei - wer ist eine Größe: jemand, der Geld hat oder moralisch integer ist oder Macht über andere Menschen ausüben kann oder wer? - und folglich in einer Gesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied ist, versagt habe.

    Der Erzähler scheint diese Stelle weniger seinen jungen Lesern als deren Eltern zu erzählen, denen schon auf der ersten Seite beruhigend verdeutlicht wird, daß in diesem Buch ,heiße Themen‘ vielleicht angefaßt, aber doch auf ganz ,unschädliche‘ und keine ,unnötigen‘ Diskussionen heraufbeschwörende Weise wieder ‚abgekühlt‘ werden. Später erfährt man - und das ist wirklich eine überraschende, weil von der Handlung nicht bestätigte Mitteilung -, daß die Oma keine unpolitische Frau, sondern eine Sozialdemokratin sei (vgl. S. 92).[8]

    Dem Übergang vom Elternpublikum zum Kinderpublikum dient der Satz: „Und sie verstand sich einzurichten.“ Das heißt einmal - als Metapher gelesen - sie verstand es, mit ihrer sozialen Lage zufrieden zu sein und sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, und zugleich leitet der Satz - im eigentlichen Sinne genommen - zur Wohnung in München über. Nach einem einleitenden Wortspiel („klein und fast so alt wie sie“) wird die Oma als fast so klapprig dargestellt wie ihr Sofa (auf dem es zugeht wie in einer Clown-Nummer im Kinderzirkus) und als geistig so beschränkt, daß sie nicht zu lernen vermag, wie man mit einem Ölofen umgeht. Da kann der Erzähler die Oma noch so oft versichern lassen, sie fühle sich „innendrin“ wie „ein Mädchen“: durch objektive Tatsachen wird schon hier klargestellt, daß alte Leute ein bißchen beschränkt und hinter der neuen Zeit weit zurückgeblieben sind.

    Natürlich stimmt nicht, daß es in ihrer Wohnung außer dem Ölofen keinen neuen Gegenstand gibt, selbstverständlich hat diese Oma zum Beispiel auch einen Fernseher (vgl. S. 30), aber diese ungenaue, zum Gebrauch von Hyperbeln tendierende Erzählweise ist bezeichnend für den Umgang des Erzählers mit seiner Figur: Mittels Späßchen, die dem Publikum zuliebe gemacht werden, kann mit der alten Frau ,umgesprungen‘ werden, wie es dem Erzähler beliebt. (Dies wird vielleicht am deutlichsten in dem Kapitel „Mit Oma in den Ferien“.)

    Was vermag nun der Leser aus der Konstellation Kind - alter Mensch zu lernen? Zum Beispiel den Umgang mit der ,Obrigkeit‘? Diese Obrigkeit stellt der Erzähler nicht als eine Institution in einem demokratischen Staat dar, sondern als mythische Macht in Form eines „Amts“, das von „Beamten“ verwaltet wird. Der Konflikt bleibt im Dunkeln; auch als erwachsener Leser kann man nicht herausfinden, um welches Problem es genau geht - es scheint sich um eine komplizierte Rechtslage zu handeln [9] -, obgleich der Erzähler sagt, für Kalle sei die Sache klar, und dadurch jedem Leser suggeriert, wer den Zusammenhang nach der folgenden Erklärung nicht verstanden habe, sei etwas beschränkt:

    Er wußte, worum es ging. Sein Vormund, der Chef seines Vaters, hatte beantragt, daß Oma mehr oder weniger Kalles Pflegemutter werden sollte, was sie gar nicht werden konnte, höchstens eine Pflegegroßmutter. Und seine Großmutter war sie schon immer gewesen. Also war das ohnehin Unsinn. Nur für das Amt nicht. (S. 22)

Mit Hilfe von Komik wird also das komplizierte Problem überspielt, weil sonst das Amt und die Beamten nicht auf die Art dargestellt werden könnten, wie sie dargestellt werden. Eingeführt wird in das Thema auf folgende Weise:

    Wenn ich deine Waisenrente bekomme, wird es uns ein wenig besser gehen. Aber die Herren Beamten brauchen immer ihre Zeit. Die denken nicht an uns, sagte sie.
        Kalle fragte, wer denn die Herren Beamten seien.
        Das sind Leute, die hinter großen Schreibtischen sitzen, auf denen sie Papier hin- und herschieben. Die machen, daß man Geld kriegt oder keines.
        Kalle konnte nicht verstehen, daß es so mächtige Leute gab. Manchmal wünschte er sich, auch so mächtig zu sein, um Oma eine Menge Geld zu schenken. (S. 17 f.)

Hier sind so ziemlich alle Klischees beisammen, die über Beamte üblicherweise - nicht nur in Witzkolumnen - im Umlauf sind. Der Erzähler schiebt sozusagen die simulierte ‚kindgerechte‘ Erzählposition vor, um dem jungen Leser nicht erklären zu müssen, welche Funktion und welche Macht Ämter und Beamte in einem demokratischen Staat haben und daß es rechtliche Mittel gibt, gegen Amtsmißbrauch vorzugehen.

    Wenn man diesen Gesichtspunkt im Unterricht thematisiert, werden die Schüler selbst erkennen, wie wenig der Erzähler daran interessiert ist, seinen Adressaten Sachverhalte wahrheitsgetreu darzustellen, wenn er ihnen solch pauschale Vorstellungen vermittelt, die schließlich in die nicht korrigierte Ansicht der Oma münden: „Seitdem Oma häufig auf Ämtern war, wollte sie immer einen Zeugen haben. Das ist wichtig, sagte sie. Die hauen einen immer übers Ohr.“ (S. 58)

    Während für die klischeehafte Darstellung von Ämtern und Beamten und der undurchschaubaren, mythischen Struktur des Staatsapparats Oma und Kind gebraucht werden, weil mit erwachsenen, also halbwegs zurechnungsfähigen Figuren eine so alberne - aber für die verschleiernde Erzählhaltung des Buches bezeichnende - Darstellung nicht ,glaubwürdig‘ erzählbar wäre, scheint die Überschrift „Omas Ängste“ unmittelbar auf ein Thema zu verweisen, das alte Leute für Kinder verständlicher macht. Ziel des so überschriebenen Kapitels ist es, dem Leser zu erläutern, warum alte Menschen Alkohol als „Seelenwärmer“ brauchen; das geschieht durch die Darstellung von Omas Ängsten.

    Wohl kaum ein junger Mensch wird bei der Frage nach den Ängsten alter Menschen, die den Konsum von starken alkoholischen Getränken rechtfertigen sollen, auf die vom Erzähler in den Vordergrund gestellte Angst verfallen. Aber ist das schon eine Garantie dafür, daß der Erzähler die Ängste alter Menschen besser kennt?

    Ich habe Angst, daß es eine Inflation gibt und mein Erspartes draufgehen wird, wie schon einmal. (S. 63)

Man bedenke: diese Frau ist finanziell so schlecht gestellt, daß sie „jeden Groschen dreimal umdrehen muß“ (S. 16) und gezwungenermaßen „Zettel“ austrägt für Werbever- anstaltungen im vollen Bewußtsein, daß damit die Dummheit der Leute ausgenützt werde (S. 15 f.), „schließlich war die Oma arm, und er [Kalle] fraß ihr, wie sie sagte, fast die Haare vom Kopf weg“ (S. 23), ohne seine Waisenrente könnte sie nicht existieren - und für diese alte Frau heißt die größte Angst „Inflation“! Hat der Erzähler vergessen, was er vorher über die Oma geschrieben hat?

    Nun war die Inflationsrate Anfang der siebziger Jahre besonders hoch und dadurch das Wort ,Inflation‘ vielleicht besonders erklärungsbedürftig. „Was vorher eine Mark gekostet hatte, kostete plötzlich Tausende von Mark. Verrückt!“ (S. 63) Diese Erklärung ist an jeder Stelle falsch: Wer die Zusammenhänge nicht kennt, und das ist bei einem jungen Leser vorauszusetzen, muß meinen, „plötzlich“ bedeute unerwartet, überraschend, er erfährt nichts davon, daß in einer Inflation auch die Löhne und Renten steigen, es sich also nicht um einen Preisanstieg wegen Warenverknappung, sondern um eine Geldentwertung handelt.

    Und wie in diesem Buch der Erzähler die Inflation aus dem Nichts entstehen läßt und wie weder er noch irgendeine Figur erwähnt, daß den beiden ‚plötzlichen‘ Geldentwertungen Weltkriege vorausgegangen sind - Geschichte wird durch die Floskel „Verrückt“ ersetzt -, so wird in diesem Buch insgesamt mit Geschichte verfahren. Auch die Verursacher des Zweiten Weltkriegs erscheinen als Verrückte: „Kurz vorm Kriegsende haben ihn diese Wahnsinnigen [!] noch zu den Luftwaffenhelfern eingezogen.“ (S. 30) Und um sich ein Bild davon machen zu können, wie wenig den betroffenen Kindern „ein echter Krieg“ „gefällt“, wird Kalle - er ist noch nicht neun Jahre alt! - aufgefordert, „mal an die armen Würmer in Vietnam“ zu denken (S. 31). Im Altersheim erzählt „Frau Wendelin von ihrem einzigen Sohn, einem Flieger, den sie im Krieg verloren [!] hatte; blutjung, sagte sie immer wieder, blutjung.“ (S. 84 f.)

    In diese mythische Geschichts- und Gesellschaftsdarstellung fügt sich ein, daß Oma - die im selben Zusammenhang von ihren inflationsgefährdeten Ersparnissen erzählt - Angst davor hat, „daß sie [!] uns die Miete erhöhen“ (S. 64). Durchgängig walten in diesem Buch anonyme Mächte, denen man hilflos ausgeliefert wäre, gäbe es da nicht den Alkohol: „Und seitdem wärme ich mir meine Seele, mit ein oder zwei Gläschen [Schnaps] nur. Vor allem dann, wenn ich Angst habe.“ (S. 62) „Hin und wieder ein Schnäpschen, das brauch ich eben.“ (S. 64)

    Was trägt das Kapitel „Omas Ängste“ dazu bei, den jungen Lesern alte Leute verständlicher zu machen? Sie erfahren, daß alte Leute Angst haben und daß sie gegen diese Ängste nichts tun können. Objektiv trifft das nur für die Angst zu, Oma könne krank werden und wisse dann nicht, was mit Kalle passiere. Die anderen Ängste sind jedoch abbaubar. Ein guter Erzähler könnte eine Geschichte schreiben, in der das gezeigt wird. So aber erscheint den Kindern das Alter als ein ohnmächtiges Ausgeliefertsein an Geschichte (Inflation) und an Gesellschaft (Hausbesitzer), dem man - und das auch nur zeitweise - dadurch entgeht, daß man trinkt. Und das Übelste, um nicht zu sagen: das Unverantwortlichste ist hier, daß überhaupt Alkohol als Heilmittel gegen Ängste, gegen seelische Belastungen bestätigt wird: „Ich [...] trank [...] einen großen Schluck. Und weißt du was, Kalle? Es tat gut. Ich sagte mir, das ist ja ein richtiger Seelenwärmer. Und seitdem wärme ich meine Seele“ (S. 62). Da Angst nicht auf das Alter beschränkt ist, warum sollten diese „Seelenwärmer“ nicht auch von jungen Menschen ausprobiert werden, wenn sie so gut tun?

    Der Erzähler kritisiert an einem Beamten: „Er drückte sich richtig geschwollen aus.“ (S.26) Und wie drückt der Erzähler selbst sich aus? „Vielleicht brachte die Sache mit dem Brief die Fürsorgerin ins Haus. [...] Sie war sehr hübsch anzusehen und [!] hatte dicke grüne Schatten über den Augen. Sie gefiel Kalle.“ (S. 56) Der kleine Kalle wird vorgeschoben, damit der Erzähler ungeniert aus der Männerperspektive schreiben kann.

    Man könnte versucht sein, die hier gezeigten ,Mängel‘ des Buches damit zu erklären, der Autor habe sich nichts dabei gedacht und eben drauflosgeschrieben, wie es ihm in den Kopf kam. Das mag vielleicht für den konkreten Autor zutreffen; die Intentionalität des abstrakten Autors dagegen hat Methode: Die verkindlichte Perspektive - auch alte Leute sollen bekanntlich wieder zu Kindern werden - dient als Lizenz dafür, Geschichte und Gesellschaft so darzustellen, daß der einzelne ihnen fast recht- und schutzlos ausgeliefert ist und ihm kaum anderes übrig bleibt, als sich so gut wie möglich anzupassen. Gerade dort, wo die Oma - wie bei Kalles Rente - sich von der ‚Obrigkeit‘ scheinbar nichts gefallen läßt, wird die Ohnmacht des Individuums am meisten bestätigt.

 

2. Gudrun Pausewang: Die Wolke [10]

Dieses Buch wurde schon kontrovers diskutiert, als es 1988 den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen sollte und dies schließlich erst möglich war, nachdem sich die für diesen Staatspreis zuständige Bundesgesundheitsministerin Süßmuth persönlich dafür eingesetzt hatte. Die damals erhobenen Vorwürfe gegen das Buch hatten andere Gründe als die folgenden kritischen Bemerkungen.

   „Die Wolke“ ist erklärtermaßen ein politisches Kinderbuch, weil es ein Ziel verfolgt, das nur politisch durchsetzbar ist: Es wird versucht, die entsetzlichen Folgen, die ein Atomkraftwerksunfall haben kann, durch Erzählen ins Bewußtsein zu bringen und damit den Kindern anschaulich zu verdeutlichen, daß das Risiko der Atomenergie zu groß ist.[11] Zugrunde liegt der Erzählung der Gedanke, der GAU in Tschernobyl habe deshalb so wenig Wirkung auf das Bewußtsein der Bevölkerung gehabt, weil dieser Ort zu weit weg sei und man dadurch die Gefahren der heimischen Atomwerke verdrängen könne. Mit Hilfe einer Fiktion, eines ausgedachten, aber dafür in Deutschland angesiedelten Unglücks, soll das Bewußtsein nun gründlicher verändert werden, als es aufgrund eines wirklichen Reaktorunglücks möglich war. Wie geht der abstrakte Autor diese Aufgabe an?

    Er erfindet einen SuperGAU in einem Atomkraftwerk bei Schweinfurt und die etwa 50 km davon entfernt wohnende 14jährige Haupt- und Identifikationsfigur Janna-Berta, deren Betroffenheit durch das Unglück geschildert wird. Dies geschieht mit Hilfe eines Erzählers, der fast immer aus der Nähe und der Perspektive seiner Hauptfigur berichtet und deshalb keinen übergeordneten Standpunkt einzunehmen braucht. Die enge Bindung des Erzählers an das von ihm erzählte Geschehen enthebt ihn aber auch der ,Verpflichtung‘ auf Objektivität, und er kann das, was eine der erzählten Figuren sagt oder hört, ungeklärt stehenlassen und damit den Leser verunsichern.

    Beispielsweise erstreckt sich über siebzig Seiten hinweg die Erörterung der Frage, ob Bundeswehr und Polizei auf Zivilisten geschossen haben. Als Janna-Berta und Uli „Schüsse und Geschrei“ hören, antwortet Janna-Berta auf die Frage, „Schießen die welche tot?“: „Die haben sicher nur in die Luft geknallt“ (S. 38), was durch die Formulierung „Schüsse und Geschrei“ sehr unwahrscheinlich erscheint. Dann fallen, gerade als „Panzerwagen“ auffahren und ein „Hubschrauber“ über dem Bahnhof kreist, „irgendwo in der Stadt [...] Schüsse“ (S. 48). Als nächstes berichtet Ayse von einem Gerücht: „,Ein paar Kilometer um das Kernkraftwerk sollen sie auf alle Leute geschossen haben, die flüchten wollten. Weil die doch ganz verseucht waren. Glaubst du das?‘ – ‚Nein‘, antwortete Janna-Berta. ,Ich glaub nicht, daß so was bei uns passieren kann.‘“ (S. 68)

    Diese gerüchtweisen Unterstellungen werden nur auf der Figurenebene zu einem Abschluß gebracht. An die Stelle des Erzählers tritt Almut, Janna-Bertas Tante, die im Gegensatz zu Tante Helga von Janna-Berta geliebt wird und die somit für den Leser, wenn er sich mit der Hauptfigur identifiziert, eine Autorität darstellt:

    Gleich am ersten Vormittag, nur ein oder zwei Stunden nach dem Unfall, haben sie einen  Gürtel um die Sperrzone EINS gezogen. Polizei und Militär in Schutzanzügen. Sie haben die Leute in der Zone aufgefordert, in die Keller zu gehen. Und - es heißt, wer flüchten wollte, auf den wurde geschossen. Mit Maschinengewehren.”
        Janna-Berta dachte an das, was ihr Ayse einmal gesagt hatte.
        „Glaubst du, es ist wahr?” fragte sie.
        „Ja”, antwortete Almut. ,Sie haben es zu verheimlichen versucht, aber so was läßt sich nicht verheimlichen. [...] Es heißt, die Bewohner der Sperrzone EINS seien so verseucht gewesen, daß sie den anderen gefährlich geworden wären. Und es heißt, sie hätten sowieso keine Überlebenschance gehabt. Sie wären langsam und qualvoll verreckt.”
        Nach einer langen Pause fragte Janna-Berta: „Aber die Polizisten und Soldaten, wie können sie –?”
        „Menschen sind zu allem fähig”, antwortete Almut. (S. 108)

Was zunächst nur ein Gerücht war, ist inzwischen - objektiv - zwar auch noch nicht über das Stadium des Hörensagens hinausgelangt - dreimal: „es heißt“ -, aber da Almut es dennoch wie eine Tatsache behandelt und eine allgemeinmenschliche Erklärung für die Brutalität der „Polizisten und Soldaten“ liefert, wird es für jeden Rezipienten schwer, sich der Manipulation zu entziehen, die dadurch möglich ist, daß der Erzähler das nicht problematisiert, was hier durch die Hauptfigur suggeriert wird.

    Da dieser sich auf die Perspektive seiner Figuren beschränkende Erzähler das Geschehen in der Vergangenheit darstellt, wäre auch denkbar gewesen, an seiner Stelle Janna-Berta selbst ihre Erlebnisse erzählen zu lassen, wie sie das am Ende des Buches ihren Großeltern gegenüber tun will. Sie hätte unmittelbarer in Sprache fassen können, was sie gedacht und gefühlt hat bzw. denkt und fühlt. Bei einem Buch, das darauf angelegt ist, Betroffenheit aufgrund von Informationen zu ersetzen durch Betroffenheit aufgrund von Emotion, kann dieser ,Verzicht‘ kaum anders erklärt werden als dadurch, daß im Falle der Ich-Erzählung das Spannungsmoment fehlte, ob Janna-Berta selbst die Folgen der Kontamination überleben wird. Das heißt, der abstrakte Autor vertraut dem ,Emotionswert’ seines Themas so wenig, daß er auf den alten erzählerischen Trick, den Leser dem Ende entgegenfiebern zu lassen, nicht verzichten kann. Man muß jedoch bedenken, daß die auf das Ende gerichtete Spannung dem Leser emotionale Energie entzieht, die sich sonst auf das Geschehen selbst konzentrieren könnte, und es also bei diesem Mangel schwierig ist, eine emotionale Betroffenheit zu erzeugen, die der Ungeheuerlichkeit des erzählten Geschehens entspringt und nicht erzählerischer Technik.

    Die erzählte Hauptzeit umfaßt etwa ein halbes Jahr und ist selbst unterteilt in fünf Zeit-Räume (Flucht, Notkrankenhaus, bei Verwandten in Hamburg und Wiesbaden, zu Hause), die - der Bindung des Erzählers an die Hauptfigur entsprechend - linear erzählt werden. Dadurch ist der Erzähler zum Beispiel der Notwendigkeit enthoben, zu erklären, wie Tante Helga auf die Nachricht des Unglücks reagierte und wie es ihr gelungen ist, es so zu verdrängen, daß für sie das Leben schon nach wenigen Monaten weitergeht wie vorher. Man kann auch sagen: auf diese Weise ist es gelungen, die Augen vor der Frage zu verschließen, wie mit dem Roman nachhaltig wirkendes Bewußtsein erzeugt werden soll, wenn schon seine Figuren, für die das Geschehen doch Wirklichkeit ist, so unbeeindruckt von dem bleiben können, was sie bedroht.

    Bei der Konzeption dieses Romans war das Problem zu lösen, wie ein Publikum über das informiert werden kann, was sich außerhalb der Haupthandlung ereignet, aber für das Verständnis der Geschichte notwendig ist. Da der Horizont des Erzählers eingegrenzt ist, hätte dieser ,Mangel‘ zum Beispiel durch Rundfunk- und Fernsehberichte behoben werden können. Diese Möglichkeit wird jedoch nicht gewählt, obgleich die Figuren xmal vor dem Fernseher sitzen und dabei etwa über Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Frankreich informiert werden. Der Grund dafür könnte die Überlegung gewesen sein, daß Informationen in Nachrichtenform wegen ihrer abstrakten Sprache ebenso wirkungslos bleiben könnten wie die, die seinerzeit über Tschernobyl verbreitet wurden. Stattdessen wurde ein Informant geschaffen, der in der Handlung selbst agiert. Wie ist nun diese wichtige Figur dargestellt?

    Es handelt sich um einen Zivildienstleistenden aus Köln, der „Tünnes gerufen“ wurde und „es sich gefallen“ ließ. „Tünnes war gesprächig und brachte eine Menge Neuigkeiten von draußen mit.“ (S. 64) Man kann hier schon ahnen, wie schwer es sein wird, wirklich Ungeheuerliches zu berichten, wenn dies als „eine Menge Neuigkeiten“ im Kopf eines „Tünnes“ unterzubringen und zu transportieren ist. Und dementsprechend erzählt er zunächst, was er selbst nicht erlebt, sondern ebenfalls als Neuigkeiten gehört hat. Dabei ist er emotional so unbeteiligt, daß er sich bei seiner Arbeit nicht stören läßt; das schränkt die Ungeheuerlichkeit seiner Erzählung erheblich ein: „,Achtzehntausend Tote‘, erzählte er, während er ein Kind fütterte. ,Und jeden Tag werden es mehr. Vorgestern haben sie den nationalen Notstand ausgerufen.‘“ („Nationaler Notstand“ ist hier ein so gängiger Begriff, daß er ihn nicht erläutert und auch niemand danach fragt.) (S. 65)

    Er erzählt von Evakuierungen und faßt dann eine sehr wichtige Neuigkeit in eine saloppe, spaßige Ausdrucksweise: „Und das Mistding [gemeint ist der Atomreaktor] hört nicht auf zu strahlen! Einen Spezialistentrupp nach dem anderen lassen sie dran: Alles für’n Arsch. Pardon, aber so isses.“ (S. 65) Diese Metapher korrespondiert der „Bettpfanne“, die er gerade in der Hand hält. Aber als ob der abstrakte Autor spürte, daß er seinen eigenen Intentionen zuwider handelt, wenn er Erzähler und Figuren das Entsetzliche einerseits als Nachrichtensprache und andererseits unbekümmert und lustig berichten läßt, schwenkt Tünnes - im Einklang mit der Bettpfanne - von der Dimension des Hören-Sagens („halb Europa“) in den Bereich eigener Anschauung: „,In den ersten Tagen hat halb Europa in den Kellern gesessen‘, sagte er und schwenkte die Pfanne. ,Sogar die Franzosen. Bei uns in Köln hat sich so gut wie nichts mehr auf den Straßen gerührt.‘“ (S. 65)

    Nun scheint aber Tünnes selbst zu fühlen, daß er mit solch trockenen Informationen seine Hörer nicht zufriedenstellen kann, und geht deshalb auf die emotionale Ebene:

    „Und der Vater hat schon am zweiten Tag unsere beiden Hunde erschlagen, an denen er so gehangen hat. Die hätten ja Auslauf gebraucht. Und wer hat schon zentnerweise Hundefutter im Haus! Erst wollte sie mein Vater einschläfern lassen. Aber kein Tierarzt wollte aus dem Haus, und mein Vater traute sich natürlich auch nicht. Da hat er sie mit dem Beil erschlagen. Meine Mutter hat geheult, wie sie das Gewinsel gehört hat. Die ganze Waschküche war voll Blut.‘ Florian fing an zu weinen.“ (S. 65 f.)

Dieser Appell an Tierliebe und an Tränendrüsen wurde dadurch vorbereitet, daß Janna-Berta und Uli den Wellensittich Coco allein in der Wohnung zurückließen (vgl. S. 27) und sie unterwegs sahen, daß „ein Mann einen Collie“ erschoß (S. 34). Das ist zwar alles sehr traurig, aber es handelt sich um erzählerische Klischees, die für Emotionalisierungen zur Verfügung stehen und denen die jugendlichen Leser - nicht zuletzt in Gewaltfilmen - in abgewandelter Form schon öfter begegnet sind. Das läßt vermuten, daß sie wie diese ‚verarbeitet‘ werden und dementsprechend das Bewußtsein und Handeln der Figuren kaum verändern.

    Damit bin ich bei der Frage, wie die schwierige Aufgabe gelöst wird, das Ungewöhnliche, also das Reaktorunglück, so konkret zu vermitteln, daß die Leser bis ins Mark getroffen sind, während doch die Gefahr bloß in Form einer abstrakten Wolke über den Menschen schwebt. Es müssen sich also die Eltern und der kleine Bruder der Hauptfigur an dem Unglückstag in der Nähe des Kraftwerks aufhalten, damit Janna-Berta berechtigte Angst haben kann, daß diese nahen Verwandten das Unglück nicht überlebt haben. Eltern zu verlieren ist in der Kinder- und Jugendliteratur jedoch nichts Besonderes: Man denke an Härtlings „Oma“, wo fast ohne emotionale Folgen für Kalle die Eltern durch einen Autounfall verschwinden.

    Wenn das ,normale‘ Schreckliche als solches nicht empfunden wird, muß es überboten werden. Dies geschieht dadurch, daß Janna-Bertas anderer Bruder bei der gemeinsamen Flucht vor der Wolke von einem Auto überfahren wird und in einem Rapsfeld tot zurückgelassen werden muß (vgl. S. 41). Aber bei einem heutigen Kinderpublikum hält sich auch die emotionale Erschütterung durch solch ein Unglück - das überdies nur mittelbar etwas mit dem GAU zu tun hat - in Grenzen, da es .Härteres’ gewohnt ist. Also wird nochmals ein Schrecken ‚draufgesetzt’, vielleicht in der Hoffnung, daß Quantität in Qualität umschlägt: Auf dem überfüllten Bad Hersfelder Bahnhof bekommt Janna-Berta drei Kinder anvertraut, von denen zwei in der allgemeinen Panik zu Tode getrampelt werden:

    Die Menge brandete herein. Wer ihr im Weg stand, wurde überrannt. Ein Wirbel bildete sich dort, wo eben noch Ninas Rufe hergekommen waren, Menschen schlugen um sich, stürzten, rappelten sich auf, traten auf andere, die noch lagen. (S. 48)

Auf die Vorwürfe der Eltern dieser Kinder reagiert Janna-Berta mit einem „irrsinnigen Lachen“, über das sie selber keine Gewalt mehr hat: „Ihr verzweifeltes Gelächter ging unter im Gedröhn des Hubschraubers und des Donners. Sie rannte mitten in die Düsterkeit hinein, die nun den ganzen Himmel beherrschte, mitten hinein in die ersten Tropfen des Regens.“ (S. 49)

    Das ganze Buch ist - sieht man vom Ernst seines Themas ab - ein Machwerk, in dem der Erzähler versucht, mit den trivialsten Erzählmustern [12]  das Ungeheuerliche durch Nervenkitzel unter die Haut zu bringen. Nahezu alle Schrecklichkeiten, die im einzelnen erwähnt werden, kommen in unserer Welt fast täglich vor und sind dann - üblicherweise - kaum eines Aufhebens wert. Noch vor einigen Jahren starben im Verkehr jährlich mehr Menschen als bei diesem erfundenen GAU.

    Kaum eines der Geschehnisse, die der Emotionalisierung dienen, wäre als stichhaltiges Argument gegen Atomkraft zu gebrauchen, würde ein junger Leser mit der Tatsache konfrontiert, daß sich auch in Bergwerken oder durch den Bruch von Staumauern Unglücke mit schrecklichsten Folgen für die Betroffenen ereignen können. Und wie sollte ein Jugendlicher reagieren, wenn man argumentiert, daß der Treibhauseffekt globale Schäden verursache, gegen die ein Reaktorunfall gar nichts sei, diese Schäden aber durch Atomkraftwerke vermieden werden könnten? Eine Vorstellung zum Beispiel davon, daß ein neues Bewußtsein bezüglich des Energieverbrauchs nötig ist, vermittelt das Buch nicht. Die Stromversorgung funktioniert überall und zu jeder Zeit weiter (vgl. S. 141). „Und aus der offenen Wohnungstür duftete es nach Kaffee, so, wie es hier schon immer um diese Tageszeit geduftet hatte.“ (S. 152)

    Die ,Botschaft‘ des Buches findet sich auf den Spruchbändern: „ES LEBE DAS LEBEN!“ - „LASST EUCH NICHT ABSPEISEN!“ - „WOLLT IHR WIEDER BEHAUPTEN, IHR HÄTTET VON NICHTS GEWUSST?“ - „ZUM TEUFEL MIT DEN POLITIKERN!“ (S. 135) Gerade auf die Art von Appellen also, die nach Tschernobyl nicht geholfen haben sollen, Bewußtsein zu verändern, läuft die Erzählung des fiktiven Unfalls hinaus.

    Wenn in der Schule dieses Buch behandelt wird unter der Fragestellung, wie es ,gemacht‘ ist und in welchen Funktionszusammenhängen die einzelnen Dimensionen des Erzählens wirksam sind, dann werden die SchülerInnen selbst erkennen, wie hier ein wichtiges Thema dadurch verharmlost wird, daß der abstrakte Autor es auf trivialste Weise behandelt und darauf vertraut, man könne durch eine Aneinanderreihung von Klischees ein Bewußtsein, das gerade durch diesen klischeehaften Sprach- und Sprechgebrauch geprägt ist, wirklich und nachhaltig verändern. Dafür noch ein Beispiel:

    Um die entsetzliche Situation auf dem Bad Hersfelder Bahnhof zu schildern, wird die kleine Annika benötigt, die auf Janna-Bertas Arm „schrie wie am Spieß“ (S. 46). Derselbe Vergleich wird wörtlich wieder verwendet: ein kleines Mädchen brüllte „wie am Spieß [...], wenn [es seinen] Willen nicht bekam“ (S. 130). Das ist bezeichnend für das ganze Buch: fast jeder Satz ist austauschbar und ist selbst nichts anderes als eine längst nichtssagend gewordene Sprachhülse. Selbst dem Erzähler fällt nicht auf, wie makaber in seiner Schilderung das triviale Stimmungsbild geworden war: „Der September war eine Kette strahlender [!] Sonnentage.“ (S. 135)

    Muß man sich wundern, wenn Menschen, die mit einer so leeren Sprache, wie sie in der Kinderliteratur prämiert wird, aufwachsen, über Sprache zu keiner Erkenntnis gebracht werden können? Daß ein Erzählarsenal zur Verfügung steht, mit dem man alles, also nichts, auf die flotteste Weise erzählen kann, das ist das „Elend“. Noch schlimmer jedoch ist, daß dies zumindest denen, die die Preise verteilen und die Bücher rezensieren [13], nicht auffällt. Aber, das ist zu fürchten, nach wie vor wird über dieser  Literatur - um die Worte der strickenden „Großmutter“ zu gebrauchen - sich die „Zukunft [...] ausbreiten, tiefblau und endlos, mit weißen Federwolken darin“ (S. 136)!

 

3. Janosch: Oh wie schön ist Panama [14]

Das Buch handelt angeblich von der „Geschichte, wie der kleine Tiger und der kleine Bär nach Panama reisen“ (Titelblatt). Auch dieses Buch hat den Deutschen Jugendbuchpreis bekommen (1979) und dürfte eines der meistgelesenen Kinderbücher sein. Auf seiner Rückseite steht: „Der kleine Tiger und der kleine Bär sind dicke Freunde. Und sie fürchten sich vor nichts, weil sie zusammen wunderbar stark sind.“ Das hat mit dem Buch selbst nicht viel zu tun, da ihre Stärke nirgendwo gefragt ist und es nirgendwo etwas zu fürchten gibt. Dennoch ist mindestens neunmal vom Sich-nicht-fürchten-Müssen die Rede. Daß Kindsein und Angsthaben zusammengehören, ist eine – nicht hinterfragte – Grundkonstante dieses Buches. Weiter steht auf der Rückseite ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Eine ungemeine Zärtlichkeit und Wärme, augenzwinkernder Witz und Weltklugheit für Kleine kennzeichnen das Lesebilderbuch von Janosch ,Oh, wie schön ist Panama’.“ Das dürfte ungefähr der Grund für die Beliebtheit dieses Buches sein.

    Was ist nun die „Weltklugheit für Kleine“? Schaut man nach, wo der Begriff „Welt“ auftaucht, so kommt man dieser Klugheit schon näher: „,So ein Sofa [...] ist das Allerschönste auf der Welt. Wir kaufen uns in Panama auch so ein Sofa, dann haben wir wirklich alles, was das Herz begehrt. Ja?’ – ,Ja’, sagte der kleine Bär.“ (S. 26 f.) [15] Schon hier wird also ‚für Kleine’ die ,Weltklugheit’ vorbereitet, daß das „Allerschönste auf der Welt“ immer etwas zum „Kaufen“ ist, und zwar überall, wo man sich befindet. Und darauf läuft die Geschichte hinaus. Obwohl bei Hase und Igel der Bär noch davon spricht, daß Panama von oben bis unten nach Bananen riecht, werden später, wenn sie in ,Panama’ sind, die Bananen vergessen und durch das ersetzt, was man schon am ersten Tag hätte kaufen können. Der ,Weltklugheit für Kleine’ – es ist bezeichnend, daß für Kinder eine eigene Weltklugheit denkbar ist – entspricht dann, daß das Haus, das die beiden verlassen haben und das inzwischen verfallen ist, „Ein wunderbar, wundervoll schönes Haus [...] Das schönste Haus der Welt“ (S. 43) ist. Dieser Superlativ kann aber, wie in der Werbung üblich, gesteigert werden durch „noch schöner; denn sie kauften sich ein Sofa aus Plüsch und ganz weich“. Das Haus kommt „ihnen jetzt so schön vor wie kein Platz auf der Welt“ (S. 44). Das ist deshalb nicht schwierig, weil sie von der Welt nichts gesehen haben und also ihr Zuhause mit nichts vergleichen können.

    Die beiden „dicken Freunde“ sind am Schluß die Betrogenen, denn es wird ihnen die Erkenntnis vorenthalten, daß sie dort sind, wo sie immer schon waren. Was Welt-Erkenntnis, also ,Weltklugheit’ hätte werden können, wird zum Einkaufsbummel. Die Bekanntschaften mit den Freunden haben keine Folgen: Freunde sind in dieser Geschichte ebensowenig wichtig wie das Leben in einer Gesellschaft. Daß es sich hier nur scheinbar um eine harmlose Geschichte handelt, wird am besten sichtbar, wenn man – die Schüler – fragt, ob sich die in diesem Buch beschriebene und abgebildete ,Weltklugheit für Kleine’ in Lebensmaximen umsetzen läßt. Das führt etwa zu folgenden Ergebnissen:

    1. Zu zweit allein in der Einsamkeit leben ist ein erstrebenswertes Ideal.
    2. Jeder glückliche und zufriedene Zustand ist bedroht, wenn er nicht durch Stärke geschützt  ist (das wird andeutungsweise durch die Gans bestätigt, der der stärkere Fuchs auf dem Bild gerade den Hals umdreht).
    3. Es ist sinnvoll, wenn eine strenge Arbeitsteilung eingehalten wird, wenn also derjenige, der der beste Koch ist, auch immer kocht.
    4. Es hat nicht viel Sinn, sich durch vage Vorstellungen verführen zu lassen, wenn es einem so gut geht, daß das Herz nichts mehr begehrt.
    5. Wenn man einen Schwachen (die Gans) in Gefahr sieht, geht man fraglos vorüber, auch wenn man sich „vor nichts zu fürchten“ braucht.
    6. Fragen zu stellen kann falsch sein.
    7. Wenn man das, was man hat, mit Distanz betrachtet, zeigt sich, daß es das Beste von der Welt ist.
    8. Wer das, was er hat, verläßt, muß nachher arbeiten, um das wieder herzustellen, was er leichtfertig verlassen hat.
    9. Wenn man nicht aufpaßt, kann man das große Glück versäumen, das – als „geheime Botschaft“ – möglicherweise im Strom des Lebens in greifbarer Nähe vorbeischwimmt.
    10. Um glücklich zu sein, braucht man über seinen wahren Zustand nicht aufgeklärt zu sein.
    11. Das höchste Glück auf Erden ist Gemütlichkeit (Schlußsatz: ,,[...] sie hätten nie erfahren, wie gemütlich so ein schönes, weiches Sofa aus Plüsch ist.“), der kleinbürgerlichste Mief.

Sucht man nach einem Topos, in dessen Tradition diese Geschichte stehen könnte, dann zeigt sich, daß Modelle wie ,Ob im Osten, ob im Westen, in der Heimat ist’s am besten’ oder ,Bleib im Land und nähr’ dich redlich’ nicht ganz zutreffen, denn die beiden kleinen Tiere gehen fort, ohne unzufrieden zu sein (nur an Bananen scheint es zu fehlen); um zu erkennen, daß der gefundene beste Zustand in Wirklichkeit der einst verlassene Zustand ist, dafür sind sie zu beschränkt (je niedlicher, desto dümmer). Der Leser dieser Geschichte jedoch, der mehr als deren Figuren weiß, nimmt Zusammenhänge wahr, die dem alten Topos entsprechen, freilich mit dem neuen Trost versehen, daß das ‚Schönste’ und ‚Beste’ von der Welt jederzeit zu kaufen ist – womit, davon ist freilich nirgendwo die Rede – und jede ungemütliche Lage ,aufgemöbelt’ werden kann, weil sich nichts träumen läßt, worauf die Konsumindustrie nicht schon im voraus eine Antwort wüßte.[16] 

    Wer ein solches Buch prämiert oder seinen Kindern zu lesen gibt, verfährt ungefähr auf die Weise, wie der Erzähler mit seinen Geschöpfen umgeht. Die Neugierde wird so gelenkt und abgelenkt, daß den Kindern die Lust vergehen muß, im vollen Umfang des Worts ,neu-gierig’ zu sein.

    Bei einer Behandlung dieses Textes im Deutschunterricht werden die SchülerInnen vermutlich überrascht darüber sein, was und wieviel sie bei diesem scheinbar so ,einfach’ geschriebenen und gemalten Kinderbuch übersehen haben, und dabei erkennen, daß auch drollige und sich harmlos gebende Geschichten nur scheinbar ideologiefrei, tatsächlich jedoch in Interessenzusammenhängen wirksam sind.

    Schon auf der Grundlage der Untersuchung dieser drei Texte läßt sich sagen, daß es – vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – ziemlich sinnlos ist, in der Schule Kinder- und Jugendbücher so zu behandeln, als ob es sich um Dichtung und Kunst handle. Man kann als LehrerIn dem pädagogischen Auftrag nur gerecht werden, wenn man angesichts eines solchen Befundes die SchülerInnen lehrt, daß derartige Literatur speziell für sie als Kinder und Jugendliche ,gemacht’ ist, und ihnen die Aufgabe stellt, herauszufinden, welche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen man ihnen mit dieser Literatur beibringen will und wie die erzählerischen Mittel für diesen Zweck eingesetzt sind. Zur Vorbereitung auf diese Aufgabe ist kaum ein Buch geeigneter als eines, das Kinderliteratur als didaktische Maßnahme zur Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung von Erwachsenen-Interessen thematisiert. Ein solches Buch hat Ulrich Plenzdorf geschrieben.

 

4. Ulrich Plenzdorf: Gutenachtgeschichte [17]

In diesem Buch geht es nicht nur um die Frage, wann eine ,Nachtgeschichte’ eine gute Nachtgeschichte ist, sondern vor allem darum, den Kindern erzählerisch deutlich zu machen, daß mit der für sie produzierten Literatur – insofern steht die ,Gattung’ der Gutenachtgeschichten für Kinder- und Jugendliteratur schlechthin – Intentionen verbunden sind, denen sie vielleicht nicht mehr zustimmen könnten, wenn sie sie durchschauten:

„Wie habe ich das gemacht? Glänzend, müßt ihr sagen, wenn ihr ehrlich seid. Aber dazu muß man erwachsen sein, und dazu gehören Jahre! Ohne daß ihr etwas gemerkt habt, habe ich euch einfach das Wort im Munde herumgedreht. Wenn ihr denkt, ich zeige euch jetzt die Stelle, dann seid ihr schief gewickelt. Da kommt mal gefälligst selber drauf.“ (S. 41) Der didaktische Zweck dieses Buches ist, den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß erzählte Literatur ‚erzählt’ wird und es Sache des Lesers ist, den Erzähler kritisch zu beobachten, wenn er nicht selbst Opfer des Erzählens werden will. Es wäre eine produktive Aufgabe im Literaturunterricht, herauszuarbeiten, welches Bild vom Leser ,ex negativo’ in dieses Buch ,eingeschrieben’ ist, das heißt hier, sich den Leser zu erarbeiten, der ein solches Buch überflüssig machte. Sicher gehörte zu den Eigenschaften dieses Lesers, sich einer Geschichte nicht in passiver Konsumhaltung auszuliefern, sondern ein waches Auge darauf zu haben, wie und warum ihm etwas erzählt wird bzw. er etwas lesen soll, und vor allem, ob der Erzähler ihn als Leser überhaupt ernst nimmt. Vielleicht könnte es – je nach Klasse – zweckmäßig sein, mit diesem Buch eine Unterrichtsreihe zur Kinder- und Jugendliteratur zu beginnen.

Vor fast hundert Jahren veröffentlichte Heinrich Wolgast sein polemisches Buch: „Das Elend unserer Jugendlitteratur“. Während Wolgast zu dem Ergebnis kam, „der Begriff der Jugendlitteratur in dem Sinne eines Schrifttums, das eigens für die Jugend geschaffen ist und im allgemeinen auch nur für die Jugend Interesse haben kann, muß fallen“[18] , ist für mich das ,Elend’ weniger das Vorhandensein solcher Literatur, sondern eher, wie darin mit Kindern und Jugendlichen als Lesern umgegangen wird. Man kann niemanden hindern, auf dem Markt der Kinder- und Jugendliteratur sein ,Glück’ zu versuchen, aber ist nicht von den Kritikern und Preisrichtern dieser Literatur mehr Kompetenz und vor allem mehr Sorgfalt zu erwarten? [19] Es ist undenkbar, daß LiteraturkritikerInnen, wenn sie zum Beispiel die hier ‚vorgeführten‘ Bücher von Härtling, Pausewang und Janosch auch nur zweimal lesen, nicht bemerken, was den jungen Lesern zugemutet wird, auch wenn diese Leser das nicht bewußt wahrnehmen. Da aber auch solche Erwartung ,in den Wind’ geschrieben ist, bleibt keine andere Möglichkeit, dem ,Elend’ zu begegnen, als mit den davon Betroffenen das kritisch zu diskutieren, was man ihnen als gute und ,preis-werte’ Literatur vorsetzt.[20]  Da dies ohne erzähltheoretische Grundkenntnisse nicht möglich ist, schafft ein solcher Unterricht zugleich die Voraussetzung für den angemessenen Umgang mit erzählender Kunst überhaupt.

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    1    Im Sommmersemester 1990 veranstaltete ich am Germanistischen Institut der Universität Münster ein Kolloquium mit dem Titel „Zeitgenössische Kinder- und Jugendbücher“. Dabei habe ich das erste Buch, das besprochen werden sollte – „Oma“ -, angegeben, die restlichen Bücher wurden von den Teilnehmern vorgeschlagen, und zwar mit dem Interesse, ,endlich’ ein Jugendbuch zu finden, das einer kritischen Beurteilung standhält. Der hier vorgegebene enge Rahmen erlaubt Bemerkungen leider nur zu drei der behandelten Texte, doch war die Analyse der Bücher von Myron Levy (Der gelbe Vogel) und Ingrid Kötter (Die Kopftuchklasse) nicht weniger aufschlußreich. – Den Teilnehmern des Kolloquiums danke ich für die gute Diskussion, die mich veranlaßt hat, mit diesem Aufsatz einige Argumente und Anregungen für die Behandlung dieser Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht zu geben.
    2   Ingeborg Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, hrsg. v. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich 1983, S. 144.
    3    Vgl. Cordula Kahrmann, Gunter Reiß, Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse. Königstein/Ts, 1986.
    4    Peter Härtling, Oma. Die Geschichte von Kalle, der seine Eltern verliert und von seiner Großmutter aufgenommen wird. München 1989 = dtv junior 7371 (die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe).
    5    Es handelt sich bei „Erzähler“, „Autor“, „Leser“ usw. um erzähltechnische Begriffe bzw. Instanzen, ohne daß damit etwas über das Geschlecht des / der Bezeichneten gesagt wäre.
    6    Zum Beispiel durch beliebigen Tempuswechsel : „Oma bestreitet das. Sie sagte immer [...]“ – oder durch stilistische Simplizität: „Sie sagte immer [...] Sie sagte auch [...]“.
    7    Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. München, 3. Auflage 1967, S. 105 f.
    8    Sieht man genauer hin, dann ging sie „nach dem Krieg“ weniger aus gesellschafts-politischen Gründen „zu den Sozialdemokraten“, sondern weil ihr „der Kurt Schumacher gefiel, der wirklich ein toller [!] Politiker war“ (S. 92), worunter sich ein junger Leser nun denken kann, was ihm gerade einfällt.
    9 Vgl. dazu, wieviel Raum im Bürgerlichen Gesetzbuch Vormundschafts- angelegenheiten einnehmen.
    10     Gudrun Pausewang, Die Wolke. Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewußt. Ravensburg 1989 = Ravensburger Taschenbuch 1721 (die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe). – Wie man mir in Münsteraner Buchhandlungen versicherte, wird dieses Buch in Schulen sehr viel gelesen.
    11   Im Kolloquium war bei manchen Teilnehmern zunächst ein Widerwillen bemerkbar, ein Buch mit solch ernstem Thema, das sie selbst emotional berührt und erschüttert hatte, auf literaturwissenschaftliche Weise zu ‚zerpflücken’. Es kann freilich für eine wissenschaftliche Beschäftigung keine tabuisierten Gegenstände geben, und am Ende der Diskussion hat niemand mehr auf diesem Einwand beharrt.
    12   Solche trivialen Erzählmuster sind freilich rhetorisch äußerst kompliziert. Zum Beispiel sind in dem Satz „Ihr verzweifeltes ... des Donners.“ eine Fülle rhetorischer Figuren verwendet, die von der Personifizierung des „Gelächters“ über die Wassermetaphorik – die schon im Zitat davor („Die Menge brandete ...“) beherrschend ist – bis zur Anspielung auf den Mythos („Donner“) reichen, der auch durch „Regen“ (und „Wolke“) ständig präsent bleibt. Und niemand kann auf Erden in eine „Düsterkeit hineinrennen“, die „den ganzen Himmel beherrschte“: Auch diese Art hyperbolischer Aufgeblähtheit ist für derartiges Erzählen bezeichnend.
    13   Auf der Rückseite des Buchs ist ein Ausschnitt aus Ute Blaichs Rezension in der „Zeit“ abgedruckt: „Pausewangs Roman ist der engagierte, mutige Versuch, Abschied von falschen Träumen, von Illusionen zu nehmen. Sie beschwört das ·Bild der Katastrophe als heilsamen Schock für eine Umkehr. Die Hoffnung der Autorin besteht in ihrem Vertrauen in die menschliche Vernunft.“
    14   Janosch, Oh wie schön ist Panama. Die Geschichte, wie der kleine Tiger und der kleine Bär nach Panama reisen. Weinheim, Basel 1986.
    15   Das Buch ist ohne Seitenzählung. In meiner Zählung ist die erste Seite der Geschichte Seite 1.
    16   Vgl. Alwin Binder, Michael Endes „Unendliche Geschichte“ als Schule der Phantasie? In: Diskussion Deutsch 86, 1985, S. 585-598, hier S. 592 f .
    17  Ulrich Plenzdorf, Gutenachtgeschichte. Frankfurt a. M. 1988 = suhrkamp taschenbuch 958 (die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe).
    18   Heinrich Wolgast, Das Elend unserer Jugendlitteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. 2. Aufl. Hamburg 1899 (1. Aufl. 1896), S. 21. Dieses Buch hat als Motto einen Satz Theodor Storms: „Wenn du für die Jugend schreiben willst, so darfst du nicht für die Jugend schreiben.“
    19   Vgl. dazu: Alwin Binder, „Gut, solide und schwungvoll erzählt.“ Kritische Bemerkungen zu der Begründung der Verleihung des Deutschen Jugendbuchpreises 1976 für das beste Jugendbuch. In: Diskussion Deutsch 43, 1979, S. 421-436 und ders., Kritische Stellungnahme zu Martin Selges Kritik: „Im Schatten der Wächter“ (DD 45, 1979). In: Diskussion Deutsch 46, 1979, S. 212 f.
    20   Neben den oben angegebenen Aufsätzen in Diskussion Deutsch 43 und Diskussion Deutsch 86 ist auch der folgende Text ein Versuch, Vorarbeit für einen solchen Unterricht zu leisten: Alwin Binder, Sprachlose Freiheit? Zum Kommunikationsverhalten in Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“. In: Diskussion Deutsch 53, 1980, S. 290-306. - [Die hier zugrunde gelegte Methode der Erzähltextanalyse ist aus geführt in: Alwin Binder: LiteraturLesen. Was lässt sich beim Lesen denken? 2. verb. Auflage. Bielefeld: AisthesisVerlag 2004.]

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