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        Zu Goethes "Wanderers Nachtlied"

Wanderers Nachtlied

Über ein kleines und doch großes Gedicht Goethes

Kurz nach seinem einunddreißigsten Geburtstag reiste Goethe in die Gegend von Ilmenau im Thüringer Wald und schrieb an Charlotte von Stein, die um sieben Jahre ältere Gattin des herzoglichen Stallmeisters, mit der er zu dieser Zeit freundschaftlich eng verbunden war:

    „d. 6. Sept. 80. Auf dem Gickelhahn, dem höchsten Berg des Reviers, den man in einer klingernden Sprache Alecktrüogallonax nennen könnte, hab ich mich gebettet, um dem Wuste des Städtchens, den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen. Wenn nur meine Gedanken zusammt von heut aufgeschrieben wären, es sind gute Sachen drunter. Meine Beste, ich bin in die Hermannsteiner Höhle gestiegen, an den Platz, wo Sie mit mir waren, und habe das S, das so frisch noch wie von gestern angezeichnet steht, geküsst und wieder geküsst, dass der Porphyr seinen ganzen Erdgeruch ausatmete um mir auf seine Art wenigstens zu antworten. ... Es ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe des Sonnenuntergangs mich zu freuen. Die Aussicht ist groß, aber einfach. Die Sonne ist unter. Es ist eben die Gegend, von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebels zeichnete, jetzt ist sie so rein und ruhig, und so uninteressant als eine große schöne Seele, wenn sie sich am wohlsten befindet.“

Dampfende Täler von Ilemnau 20001

    Vermutlich anschließend an diesen Brief hat Goethe versucht, seine „Gedanken zusammt von heut“ in einem Gedicht zusammenzufassen, das er auf einem Zettel mit Bleistift geschrieben seinem Brief beilegte:

    Über alle Gipffel
    findest du Ruh
    In all Wipfeln
    spürst du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vögel schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruhest du auch.

    Wenn man das Gedicht mit diesem Wissen liest, dann drückt es ungefähr aus: Auf dem „höchsten Berg des Reviers“, über allen anderen Gipfeln, bei einer Aussicht „groß, aber einfach“ findet Goethe Ruhe vor dem „Wuste des Städtchens, den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen“, die ihm wohl in Ilmenau als Minister der herzoglichen Regierung begegnet sind. Vermutlich ist so viel auf ihn eingeredet worden, daß er jetzt das Schweigen der „Vögel im Walde“ wahrnimmt und genießt. Die Verse scheinen ein reines Naturgedicht zu sein, aber mit allem, was Goethe in dem Gedicht zu sich selbst sagt, reagiert er auf gesellschaftliche Erlebnisse des Tages. Zugleich schwingt in der Sehnsucht nach Ruhe, die in dieser ersten Fassung des Gedichts zuerst gestillt scheint und dann doch noch einmal ausgesprochen wird, etwas nach von den Gefühlen in der „Hermannsteiner Höhle“.
Fünfunddreißig Jahre später, 1815, erschien das Gedicht unter der Überschrift „Wanderers Nachtlied“ in Goethes Werken:

    Über allen Gipfeln
    Ist Ruh,
    In allen Wipfeln
    Spürest du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruhest du auch.

    Das Ich, das dieses Gedicht spricht, legt seinem Publikum keinen Brief bei, aus dem es ersehen könnte, daß die Verse - nach ermüdenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Ilmenau – auf dem Gickelhahn entstanden sind. Wer das Gedicht verstehen will, kann sich allein auf dessen Worte stützen. Mit „Über allen Gipfeln“ sind nun alle Gipfel gemeint; das Ich sagt etwas aus, das kein Mensch aussagen könnte, der sich nicht über alle Gipfel erheben kann. Aus dem konkreten Wanderer ist ein allwissendes, erhabenes Ich geworden, welches den Vers „findest du Ruh“ ersetzt durch „Ist Ruh“. Was zuerst eine Aussage über das Empfinden eines einzelnen Menschen war, ist nun eine Aussage über das ‚Sein‘: Über den höchsten Gipfeln ist etwas, was sich unter den Gipfeln nicht finden läßt. Die Ruhe der Luft und das Schweigen der Vögel scheinen jetzt nur noch ein Gleichnis der „Ruh“ zu sein, die über allen Gipfeln „ist“. Auch die beiden Schlußzeilen „Warte nur, balde / Ruhest du auch“ heißen jetzt nicht mehr zuerst, das Ich werde es den Vögeln gleichtun und ebenfalls ruhen, sondern verheißen zugleich ein Ruhen im Tode. Unter der Größe des Alls erscheint alles andere, auch das „du“, klein; stellvertretend dafür sind nun die „Vögel“ zu „Vögelein“ verkleinert.

    Weil in diesem Gedicht einfachste Naturerfahrung über die Grenzen menschlicher Erfahrung hinausweist, gehört es wohl zu den beliebtesten, die in deutscher Sprache geschrieben worden sind. Es sind 164 Vertonungen davon bekannt. Wenn man von der Feststellung der beiden ersten Zeilen absieht, sind die Sätze so offen formuliert, daß das „du“ sowohl für das Ich, das das Gedicht spricht, und zugleich für alle, an die es gerichtet ist, stehen kann. In dem Unerbittlichen, das die beiden letzten Verse enthalten, und dem Trost, den sie gleichwohl ausdrücken, sind alle Menschen inbegriffen. Auch das könnte ein Grund sein, warum dieses „Nachtlied“ Menschen aller Lebensstufen anspricht, aber am unmittelbarsten vielleicht doch die, die das „balde“ bald erwarten. Dies mag Goethe selbst so empfunden haben, als er am 27. August 1831, einen Tag vor seinem letzten Geburtstag, nochmals auf dem Gickelhahn war und sich das Gedicht noch einmal vorlesen ließ, das er 1780 an die Wand der Jagdhütte, die oben steht, geschrieben hatte. Er soll mit Tränen in den Augen gesagt haben: „Ja: warte nur, balde ruhest du auch!“ So konnte der alte Goethe von einem Gedicht angesprochen und gerührt werden, dessen Worte er selber einundfünfzig Jahre früher in einem ganz anderen Sinn gemeint hatte, als er ihn nun empfand. Die Bedeutung des Gedichts war sozusagen mit ihm selbst gewachsen.
    In heutiger Zeit könnte Goethe diese Verse kaum mehr schreiben, oder sie hätten eine andere Bedeutung. Dann wäre als Überschrift nicht mehr „Wanderers Nachtlied“, sondern eher 'Weltende' passend. Und zwar nicht nur in dem Sinne, daß mit jedem Leben eine Welt zu Ende geht, sondern bezogen auf die Erde schlechthin. Es ist ein Bestandteil unserer Welt, daß „über allen Gipfeln“ keine „Ruh“, sondern Lärm „ist“; ein Ausbleiben dieser Ruhelosigkeit bedeutete das Ende der modernen Zivilisation. Auch der Satz „Die Vögelein schweigen im Walde“ hätte heute eher einen makabren als einen beruhigenden Sinn: Weder ist undenkbar, daß die Vögelein gar keinen Wald mehr vorfinden, noch ist es unmöglich, daß im Wald gar keine Vögelein mehr wohnen, weil sie zusammen mit anderen Tier- und Pflanzenarten - unfreiwillig - von der Erde verschwunden sind.

                                                                                                             

(Dieser kleine Aufsatz erschien 1999 in der Zeitschrift “WIR” des SPD-Ortsvereins Münster-Handorf anlässlich von Goethes 250. Geburtstag.)