Web Design
         Gott in der Natur, die Natur in Gott

Alwin Binder

Gott in der Natur, die Natur in Gott

Zu  Goethes Naturbegriff

Yoshihito Mori hat in seinen Veröffentlichungen mehrfach darauf hingewiesen, welche große Bedeutung im Denken Goethes der „Natur“ zukommt. In seinem Aufsatz „Goethe und die japanische Naturanschauung“ zitiert er Goethes Vorstellung: „[...] daß dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wonach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge.“1 Diese Stelle hat mich angeregt, der Frage nachzugehen, was Goethe meint, wenn er die Natur personifiziert und wie ein höheres Wesen behandelt.

Im allgemeinen Bewusstsein, das Goethe bei seinem Publikum voraussetzen konnte, ist Natur der Sammelbegriff, der alle Werke Gottes, mit Ausnahme der Seele, umfasst. Nirgendwo steht in der Bibel, Gott habe ein Wesen namens „Natur“ erschaffen, das nach eigenem Gutdünken schalten und walten kann und mit dem zusammen dann Gott „von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge“. Die Wendung „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ ist nach christlichem Verständnis der Dreieinigkeit Gottes vorbehalten, während die Natur zur Diesseitigkeit gehört und schließlich untergehen wird (Mt 24).

Wie Spinozas „Formel“ „deus sive natura“  enthält Goethes „Gott in der Natur, die Natur in Gott“ „ebenso die Naturalisierung Gottes wie die Vergöttlichung der Natur“2. Das Neben- und Ineinander von Gott und Natur schließt zwar nicht aus, dass Gott noch ein wenig mehr ist und mehr kann als die Natur, aber für den in seiner Erkenntnis beschränkten Menschen genügt es nach solcher Voraussetzung, wenn er sich der greifbaren und erforschbaren Natur zuwendet, um etwas von Gottes Wesen zu erfahren. Solange dieser Naturbegriff nur den Bereich der Naturwissenschaft umfasst, lässt er sich verhältnismäßig widerspruchsfrei denken. Schwieriger wird es, wenn Natur auch die Güte und Liebe Gottes repräsentieren und zugleich für den moralisch-sittlichen Bereich zuständig sein soll. Von dieser Natur ist in dem Gedicht „Auf dem See“ die Rede: 

    Und frische Nahrung, neues Blut
    Saug’ ich aus freier Welt;
    Wie ist Natur so hold und gut,
    Die mich am Busen hält! [...]3 

Diese Idee einer holden und guten Mutter Natur ist beeinflusst von Rousseaus Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus gut und erst durch die Gesellschaft schlecht geworden. Seinem „Zurück zur Natur“ steht aber nicht nur das Hobbes’sche „homo homini lupus“ entgegen, sondern auch die Erfahrung, die jeder machen kann, wenn er einen Blick in die Natur wirft. In weiten Bereichen der Tierwelt ist die Natur nicht „hold und gut“, sondern brutal, und wer sie zu einem humanen Wesen in Analogie setzt, muss entweder die Augen zumachen oder Gründe auftun, die es erlauben, außer von der rohen Natur auch noch von einer hohen oder höheren Natur zu sprechen. Während die Personifizierung Gottes zwar eine Einschränkung des Gottesbegriffs bedeutet, aber diesem Begriff doch nicht widerspricht, ist die Personifizierung der Natur immer ein rhetorischer Kunstgriff, dem in der weiten Welt nichts wirklich oder wenigstens nichts unmittelbar zu entsprechen scheint.

Obgleich Goethe von seiner „reinen, tiefen, angebornen und geübten Anschauungsweise“ spricht, die ihn „Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt“4 habe, hat er sich damit nicht begnügt, sondern versucht, durch eine wissenschaftliche Betrachtung zu erweisen, dass sich bereits in der dem Menschen unmittelbar zugänglichen Natur eine höhere Natur – die „ewige Mutter“ – erkennen lässt. Das Übergreifende dieses Betrachtungsmodells fand er im aus der Zoologie entlehnten Begriff der Metamorphose: Das Wesen einer gefräßigen Raupe kann zugleich als lieblicher Schmetterling erscheinen.5 Dies konnte er als Sinnbild einer Gesamt-Natur sehen, die sich als  brutale wie als humane Natur zeigt und dennoch eine6 Natur bleibt. Der Versuch, sich dem humanen ‚Aggregatzustand‘ des Naturwesens zu nähern, fand seinen Niederschlag in dem Gedicht „Die Metamorphose der Pflanze“ und in dem Fragment gebliebenen Gedicht „Die Metamorphose der Tiere“.

Da das Leben der Pflanzen sich kaum in Gewaltverhältnissen entfaltet, scheint es am ehesten geeignet, in der rohen Natur zugleich eine holde und liebliche Natur erkennen zu lassen. Die Pflanze entwickelt sich aus Samen, Keimblatt und Stengel und zeigt sich als liebesfähige Blüte. Das Ich, das in „Die Metamorphose der Pflanzen“ der „Geliebten“ die Natur erklärt, sieht in der „Göttin“ Natur eine Art Dichterin, die im Buch der Natur immer die gleiche Schrift, aber verschiedene Schriftzüge verwendet. Deshalb überträgt dieses Ich die Beobachtungen in der Pflanzenwelt auf die Welt der Tiere und Menschen:

    [...] Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
      Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
    Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
      Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.
    O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
      Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß,
    Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte,
    Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.7

„Freundschaft“ und „Amor“ als humane Verhältnisse zwischen Menschen werden hier in Analogie zur Bildung und Verwandlung höherer Pflanzen gesehen. Dem pflanzlichen Streben nach Blüte und Frucht soll das Streben der „heiligen Liebe“ und das Suchen einer „höheren Welt“ entsprechen. Aber angesichts der Gewaltverhältnisse unter Menschen ist die Analogie zur Pflanzenwelt nur ein schwaches Argument, wenn die humane Natur des Menschen bewiesen werden soll. Denn diese Analogie gilt vor allem für den Sexual- und Fortpflanzungstrieb; es ist schwer auszumachen, wieviel darüber hinaus für Freundschaft und Liebe als Handlungsformen einer „höheren Welt“, also einer höheren Natur, übrig bleibt.

Auch in dem „Metamorphose der Tiere“ genannten Fragment versucht Goethe, in der rohen oder niederen Natur das Prinzip einer höheren Natur nachzuweisen, an dem sich das „höchste Geschöpf der Natur“ orientieren kann. Daher beruft er sich vor allem auf die Begrenzung, der die vielgestaltende Natur selbst unterworfen sei:

    [...] Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern
    Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,
    Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
    Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf;
    Denn sie hat nicht Masse genug die Reihen der Zähne
    Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

    Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
    Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
    Vorzug und Mangel, erfreue dich hoch; die heilige Muse
    Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.
    Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
    Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
    Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
    Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig
    Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
    Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
    Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,
    Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.8

Hier ist das Gesellschaftsmodell der Weimarer Klassik umschrieben. Es ist zusammengefasst in dem Begriff „bewegliche Ordnung“, der zugleich die Grenze politischen, sittlichen und künstlerischen Schaffens und Handelns bezeichnet, über die niemand hinauskomme. Denn mit dieser „Gewißheit“ hat sich der Mensch als „höchstes Geschöpf der Natur“ zur Natur, vielleicht sogar über die Natur erhoben. Aber in Wirklichkeit denkt nicht er die Gedanken der Natur nach, sondern er denkt sie der von ihm selbst gedachten Natur vor. So ist auch das Modell, das Goethe der Natur zu entnehmen behauptet, in Wirklichkeit der Natur aufgezwungen. Selbst wenn Naturbeobachtungen bestätigten, dass die Ausgestaltung natürlicher Erscheinungsformen beschränkt ist, ändert das nichts daran, dass in der Welt der Tiere die physische Stärke das Leben beherrscht.

Goethe mag gespürt haben, dass die umfassende Darstellung der Natur, die er im Zusammenhang mit diesen Versen geplant hatte, nicht das beweisen konnte, was die Schlussverse des Gedichts verlangen. Vielleicht hat er aber auch erkannt, dass man eine höhere, oder anders gesagt: die wahre Natur des Menschen von nichts anderem herleiten kann als vom Menschen selbst. Während sich – nach Kants „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ - die Natur so erforschen und beurteilen lässt, als ob sie sich an einem Prinzip der Zweckmäßigkeit orientiere, ist es – trotz aller schönen Formen, die sie hervorbringt - unmöglich, sie so zu betrachten, als ob ein ästhetisches Empfinden sie bei der Gestaltung ihrer Welt leite. Wenn Goethe schreibt „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken“, dann ist das Schöne an diesem Begriff nicht der Natur entnommen, sondern ein Urteil dessen, der die Natur betrachtet. Gelänge es, das Empfinden des Schönen als einen Teil der spezifisch menschlichen Natur zu erweisen, dann wäre ein Bereich eröffnet, innerhalb dessen sich der Begriff einer höheren Natur vielleicht auf eine angemessenere Weise diskutieren ließe.

Diesen Bereich hat Kant mit seiner „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ aufgetan. Der zufolge gehört zum Wesen des Menschen ein Gefühl, eine Lust, die ihn mit interesselosem Wohlgefallen bei Gegenständen oder Vorstellungen verweilen lässt. Zwar kann man nicht im Voraus berechnen, wovon dieses Gefühl ausgelöst wird, aber es ist nach Kant unzweifelhaft, dass sowohl Natur- wie Kulturerscheinungen dieses besondere Gefühl hervorrufen können; solche Erscheinungen (Phänomene) erhalten das Attribut „schön“9. Wenn man bedenkt, dass der Mensch im ‚gewöhnlichen‘ Leben seine gespannte Aufmerksamkeit und Urteilsfähigkeit braucht, um sein – animalisches - Leben zu erhalten, dann sieht man, wieviel das ästhetische Gefühl für das Menschsein bedeutet. Denn es befreit den Menschen aus der gewöhnlichen Zweck-Nutzen-Beziehung und ermöglicht ihm, bei sich selbst zu sein. Indem nach Kant das – ästhetische – „Gefühl der Lust“ durch den „Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen“10 – das sind „Einbildungskraft“ und „Verstand“ – erzeugt wird, genießt der Mensch in diesem „Zustand“ sein eigenes Sein als ein freies Wesen, oder anders gesagt: Er genießt sich als höhere Natur. Denn außer ihm gibt es kein Natur-Wesen, das eines solchen „Gefühls“, einer solchen freien Selbst- und Weltempfindung fähig wäre.

Während Kant bei der Beschreibung der sogenannten „Naturschönheit“ weitgehend ohne Personifizierung der Natur auskommt, personifiziert er die Natur im Zusammenhang mit der „Kunstschönheit“: „Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“11 Diese Personifizierung begründet Kant so: „Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgendeiner Regel abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe, mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zustande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.“

Die personifizierte Natur ist hier eine Art Hilfsbegriff, der gebraucht wird, weil schöne Kunst nicht von Regeln abgeleitet werden kann und zugleich nicht ohne Regeln denkbar ist. Denn das „freie Spiel der Vorstellungskräfte“ ist nach Kant nur „unter der Bedingung“ möglich, „daß der Verstand dabei keinen Anstoß leide“, und das würde er tun, sobald das Kunstwerk regellos wäre. Wenn der Künstler selbst die Regeln seines Kunstwerks nicht kennt und das schöne Kunstwerk doch Regeln haben muss, dann bleibt nach Kant nichts übrig, als in der Natur die Ursache für die schöne Kunst zu sehen. Kant vermutet, dass „das Wort Genie von genius, dem eigentümlichen, einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originalen Ideen herrührten, abgeleitet ist“. Wie Gott in der „Geheimen Offenbarung“ (Off 1,1) sich dem Johannes durch einen Engel mitteilt, scheint sich nach Kant die Natur dem Künstler durch einen Genius, einen Schutzgeist, mitzuteilen.

Man könnte meinen, hier sei „Natur“ nur ein anderes Wort für „Gott“. Aber ein als Person gedachter Gott – zumal ein christlicher, nach Belieben strafender und verzeihender Gott – ist viel eher parteiisch als eine Natur, die jedem Menschen bei der Geburt einen eingebenden Geist mitgibt, auch wenn dieser nur selten seine Schutzbefohlenen zum Genie begabt. Würde man die Natur hier nicht personifizieren, könnte man ungefähr sagen: Es gibt Menschen, die unbewusst schöne Kunst schaffen, das heißt Werke, die bei anderen das freie Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand hervorrufen und sie dadurch – wenn auch nur zeitweilig – aus den Zwängen der Selbsterhaltung und aus nutzen- und zweckorientierten Zusammenhängen befreien. Wenn Kant sich dabei auf die Natur bezieht, dann bringt er ungeachtet der Personifizierung der Natur zum Ausdruck, dass das Gefühl für das Schöne zum Wesen aller Menschen gehört und dass das Genie mit der schönen Kunst alle Menschen anspricht oder doch ansprechen könnte.

Um Goethes Naturbegriff ganz zu verstehen, muss auch die von Kant in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ definierte „ästhetische Idee“ betrachtet werden: „Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt. Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anderes, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann. [...] Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. [...] es ist eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.“ 15

Demnach ist es vor allem der geistreiche Gebrauch der Einbildungskraft, welcher das Genie vor anderen Menschen auszeichnet. Außerdem wird deutlich, dass im Bereich der schönen Kunst die Gemütskräfte Einbildungskraft und Verstand nicht nur „zweckmäßig in Schwung versetzt“ werden, um fühlend zu genießen, sondern um das freie Denken der Menschen in Schwung zu versetzen. In diesem Zustand fühlt der Mensch, dass er ein Wesen ist, das denken kann. Und drittens wird der – von der Natur begabten künstlerischen – „Einbildungskraft“ die Fähigkeit zugesprochen, eine „andere“ – das heißt: eine zweite – „Natur“ zu schaffen.

Durch die Reflexion der ästhetischen Urteilskraft ist Kant zu der Erkenntnis gekommen, dass es zur Natur des Menschen gehört, für Schönes einen ästhetischen Sinn zu haben, und dass diese Natur bei dafür besonders von ihr begabten schöpferischen Menschen ausgeprägter oder lebendiger, aktiver als bei anderen ist. Da sich das Gefühl des Schönen nicht mit Gewalt verträgt, schafft die von Kant personifizierte Natur durch den Künstler eine zweite Natur, die der ersten, gewaltbeherrschten Natur widerspricht. Im Hinblick auf Goethes Naturbegriff ist an Kants Darstellung besonders wichtig, dass er die Personifizierung einer höheren Natur von menschlichen Eigenschaften und Handlungen ableitet. Fast könnte man sagen, diese höhere, ästhetische Natur sei eine Funktion der schönen Kunst.

Goethe hat in dieser Hinsicht die Gedanken Kants weitgehend übernommen. Zum Beispiel sagt er: "Der Künstler wird geboren. Er ist eine von der Natur privilegierte Person.“16 Oder: „Ich glaube daß alles was das Genie, als Genie, tut, unbewußt geschehe. Der Mensch von Genie kann auch verständig handeln, nach gepflogner Überlegung, aus Überzeugung; das geschieht aber alles nur so nebenher. Kein Werk des Genies kann durch Reflexion und ihre nächste Folgen verbessert, von seinen Fehlern befreit werden; aber das Genie kann sich durch Reflexion und Tat nach und nach dergestalt hinaufheben, daß es endlich musterhafte Werke hervorbringt.“17 Aber nicht akzeptiert hat er Kants Einschränkung des Genies auf den Bereich der schönen Kunst. Denn Kant wollte das Genie vom Gebiet des Wissens und der Naturerkenntnis fernhalten18. Doch ist der Begriff der Natur, auch als höhere Natur gedacht, zu umfassend, als dass er sich auf Ästhetisches begrenzen ließe. Besonders dann, wenn die Werke des von der Natur begabten Genies den „Geist“ anregen und „viel  zu denken“ geben sollen.

So war für Goethe – wie für Schiller – die das Ästhetische überschreitende Beziehung zwischen dem Schönen und dem Sittlichen, die Kant in dem „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ überschriebenen Paragraphen nur angedeutet hatte, von großer Bedeutung. Schiller ging so weit, dass er von einem ästhetischen Trieb, dem „Spieltrieb“ sprach, der den Übergang vom rohen Menschen zum sittlich handelnden ermögliche.19 Hier wird der Natur das Interesse unterlegt, den Menschen durch das Schöne zum Guten zu führen, wenn nicht gar zu ‚treiben‘. Dieser engen Verknüpfung von Schönheit und Sittlichkeit entspricht Schillers Definition: „Schönheit also ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung“20, woraus der ‚ästhetische Imperativ‘ entspringt: „Sei frei wie ich“, den „jedes schöne Naturwesen“ dem Menschen zuruft.21  Genauer gesagt heißt dies, der für das Schöne empfindsame Mensch empfindet Schönheit als Appell, so zu handeln, dass seine Handlungen schön erscheinen. Schönheit ist hier nicht nur als „Symbol“, sondern zugleich als Regulativ „der Sittlichkeit“ gedacht. Die ‚schöne Freiheit‘ verträgt sich nach Schiller nicht mit Gewalt und Zwang: „In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings konsentieren muß“22 Solche Gedanken nähern sich Kants „kategorischem Imperativ“, der in einer Fassung heißt: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“23

Dieser kategorische Imperativ zeigt zum einen, dass die „Menschheit“ – das ist die Fähigkeit, als freier Mensch gut oder böse handeln zu können – zur Natur des Menschen gehört, und zugleich, dass die menschliche Natur in den Personen nicht automatisch humanes Handeln bewirkt; denn dies widerspräche dem Begriff der Freiheit. Während nach Kant der Mensch die Pflicht hat, mit seinem Verstand seine Handlungen daraufhin zu befragen, ob sie dem kategorischen Imperativ entsprechen, vertraute Goethe eher einer von der humanen Natur des Menschen geschaffenen Kunst, um auch in anderen Menschen diese humane Natur zu wecken.

Dies ist unter der Voraussetzung denkbar, dass alles, was zur menschlichen Natur gehört, unter den Menschen nicht qualitativ, sondern nur dem Grad nach verschieden verteilt ist. Potentiell ist dann in jedem Menschen die ganze menschliche Natur angelegt, und es liegt vor allem an gesellschaftlich-ideologischen Einschränkungen, wenn sich die höhere Natur nicht entfalten kann.24 Demnach ist es nicht nötig, dass man den Menschen Vorschriften macht und ihnen sagt, was sie zu tun haben, sondern es genügt, wenn man ihrer humanen Natur hilft, sich zu entwickeln. Soll das nicht ideologisch geschehen, dann können hier am ehesten diejenigen helfen, aus denen die Natur handelt, ohne dass sie sich voll bewusst sind, was sie tun. Das sind die als „Günstlinge der Natur“25 gedachten Genies. Sobald die wahre menschliche Natur aus ihnen spricht, sprechen sie auch die wahre Natur der Menschen an. Das Genie kann auf keine andere Weise erkennen, dass Natur seiner Kunst die Regel gegeben hat, als dass diese Kunst in anderen Menschen wirkt, indem sie in ihnen Empfindungen weckt, die seinen eigenen ähnlich sind. Dann ist die Kunst des Genies echt und wahr, oder wie Goethe mit Kants Formulierung sagt, dann ist sie „musterhaft“. Das Wahre, wie Goethe es versteht, bedeutet nicht, das Individuelle zu vernichten, sondern im Gegenteil, ihm allererst seine Individualität zu ermöglichen. Wie ein und derselbe Ton von verschiedenen Instrumenten gespielt jeweils anders klingt oder wie der ‚reine‘ Alkohol den individuellen Geschmack verschiedener ‚geistiger Getränke‘, zum Beispiel Weine, erhöht, so ermöglicht erst die vom Genie in anderen Menschen geweckte Wahrheit dem Individuum, sich als solches zu fühlen und als solches zu handeln.26

Da Goethe nicht streng zwischen schöner Natur und humaner Natur trennt, sondern für ihn die menschliche als höhere Natur eine Einheit bildet, erweitert er auch den Geniebegriff Kants. Während Kant sagt „Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“, spricht im „Faust“ der Dichter im „Vorspiel auf dem Theater“ vom „höchsten Recht“, vom „Menschenrecht, das ihm Natur vergönnt“, und fasst dies zusammen als „des Menschen Kraft, im Dichter offenbart“ (V. 135-157). In dieser Definition wird die „Kunst“ erweitert zum „Menschen“, und die „Regel“ erweitert zum „Recht“. In „Dichtung und Wahrheit“ umschreibt Goethe die Definition Kants: „Es war noch lang hin bis zu der Zeit, wo ausgesprochen werden konnte: daß Genie diejenige Kraft des Menschen sei, welche, durch Handeln und Tun, Gesetz und Regel gibt.“27 Das zeigt, dass für Goethe das Genie nicht auf den Bereich der schönen Kunst beschränkt ist, oder anders gesagt, dass der wahre Künstler – im „Vorspiel“ der „Dichter“ – durch sein „Handeln und Tun“, durch sein Werk, die menschliche Gesellschaft bewegen will, eine humanere Gesellschaft zu werden.

Denn im Begriff „Recht“ ist „Regel“ als das Ordnende, dem Chaotischen Widersprechende, enthalten. Darüber hinaus aber umfasst Recht auch das Sittlich-Moralische und ist ohne den Aspekt der Gerechtigkeit nicht denkbar. Ähnliches gilt für die Erweiterung der „Kunst“. Das Empfinden für schöne Kunst gehört zum Menschsein; aber zum Begriff des Menschen, sofern er sich vom Tier unterscheidet, gehören auch soziale Empfindungen wie das von Rousseau als genuin menschlich bezeichnete „Mitleid“28. In Goethes Werk erscheint dieses Sozial-Menschliche als „Lieb’ und Freundschaft“. Im „Vorspiel“ wünscht der „Dichter“ dort zu sein, „Wo Lieb’ und Freundschaft unsres Herzens Segen, Mit Götterhand erschaffen und erpflegen“ (V. 65 f.). Das heißt, er gibt der höheren Natur, der Natur des Menschen, den Namen „Lieb’ und Freundschaft“. Weil sie die höhere, vielleicht die höchste Natur ist, handelt sie mit „Götterhand“. Sie zeigt sich spontan in der Rührung oder Achtung, wozu ein naives, kindliches, anmutiges bzw. ein erhabenes Handeln die Menschen unwillkürlich bewegt oder doch bewegen könnte. In der Formulierung „des Menschen Kraft“ ist „des Menschen“ ein genitivus obiectivus, es ist die von der Natur verliehene Kraft, über das Säugetier hinaus Mensch zu werden. Dass es dazu einer „Kraft“ bedarf, zeigt wiederum, dass Menschsein ein Vorrecht der Natur ist, das „erschaffen“ und „erpflegt“ werden muss.

Für das Verständnis von Goethes Naturbegriff haben diese Beobachtungen folgende Konsequenz: Das „von der Natur“ „vergönnte“ „Menschenrecht“ liegt im Menschen selbst. Es kann nicht von außen bestimmt, sondern nur im Innern, im Gemüt der Menschen angeregt werden und benötigt Zeit und Raum, sich zu entwickeln: „So braucht sie denn die schönen Kräfte [...] Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt, ein jeder sieht, was er im Herzen trägt“, sagt die Lustige Person (V. 158-179). In „Hermann und Dorothea“ heißt es entsprechend:

    Immer bist du doch, Vater, so ungerecht gegen den Sohn! und
    So wird am wenigsten dir dein Wunsch des Guten erfüllet.
    Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen;
    So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
    Sie erziehen auf’s beste und jeglichen lassen gewähren.
    Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben;
    Jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise
    Gut und glücklich. [...]29

Hier erkennt man, dass „das Gute“ dem Menschen nicht eingeimpft zu werden braucht, sondern dass es genügt, wenn ihm geholfen wird, er selbst zu sein. Wo diese Entwicklung gehemmt, der Mensch nach dem Sinne anderer ‚geformt‘, also deformiert wurde, kann er durch das Werk des Genies zu seiner ursprünglichen, wahren Natur finden. Da das Genie die gesellschaftlich verursachte Deformierung wahrer Natur intensiver fühlt als andere und dieses Empfinden als schöne Kunst gestaltet, vermag sein Werk, wenn es echte und wahre Kunst ist, die Gemütskräfte anderer Menschen (Einbildungskraft, Verstand, Vernunft) anzuregen und „in Schwung“ zu versetzen. Die Wesensmerkmale schöner Kunst sind nicht Vorschrift und Lehre, sondern Irritation und Impuls. Entsprechend sagt die Lustige Person im „Vorspiel“ zum Dichter: „Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, So wird der beste Trank gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut.“ (171 f.)30

Die allen Menschen angeborene Wahrheit braucht eine Art Intitialzündung, um selbsttätig weiter zu ‚brennen‘. Wenn diese Initialzündung keine von außen kommende Doktrin sein soll, bleibt nur übrig, den ideologisch verformten Menschen so zu irritieren, dass er mit der Möglichkeit zu spielen beginnt, die Gesellschaft, in der er lebt, entspreche vielleicht nicht der wahren Natur des Menschen. Schöne Kunst verwandelt inhumane Vorstellungen und Zustände, die für wahr gehalten werden, in Irrtum, ohne doch auszusprechen, was Wahrheit und wahre Natur des Menschen ist. Auch die Analogie zum „besten Trank“ ist wichtig: Schöne Kunst kann nur im Innern des Menschen wirken, sie muss ihm – wie es in den folgenden Versen heißt -  „einverleibt“ werden, damit er „sieht, was er im Herzen trägt“. Im Herzen trägt er seine individuelle Natur, die sich durch den Impuls der wahren Natur zu regen beginnt. Und wie die tierische Natur immer wieder Nahrung braucht, um sich gesund zu entwickeln und zu erhalten, so braucht auch die höhere Natur ständig „Geistes“-Nahrung.31 Goethe hat die Funktion der Kunst in folgenden Versen zusammengefasst:

    Denn das ist der Kunst Bestreben
    Jeden aus sich selbst zu heben,
    Ihn dem Boden zu entführen;
    Link und recht muß er verlieren
    Ohne zauderndes Entsagen;
    Aufwärts fühlt er sich getragen!
    Und in diesen höhern Sphären
    Kann das Ohr viel feiner hören,
    Kann das Auge weiter tragen,
    Können Herzen freier schlagen.
    [...]
    Die Kunst versöhnt der Sitten Widerstreit,
    In ihren Kreisen waltet Einigkeit.
    Was auch sich sucht und flieht, sich liebt und haßt,
    Eins wird vom andern schicklich angefaßt:
    Wie Masken, grell gemischt, bei Fackelglanz,
    Vereinigt schlingen Reih- und Wechseltanz.
    Vor solchen Bildern wird euch wohl zu Mute!
    Empfangt das Schöne, fühlt zugleich das Gute,
    Eins mit dem andern wird euch einverleibt;
    Das Schöne flieht vielleicht, das Gute bleibt.
    So nach und nach erblühet, leise, leise,
    Gefühl und Urteil wirkend wechselweise;
    In eurem Innern schlichtet sich der Streit,
    Und der Geschmack erzeugt Gerechtigkeit.32

In diesem späten Prolog stehen die im Zusammenhang mit Goethes Naturbegriff ebenfalls bedeutenden Verse:

    So herrlich fruchtet was die Muse gönnt!
    Die ihr’s genieß’t, es dankbar anerkennt,
    Preis’t Ihn mit mir, den Gott der es gegeben.33

Bei allem bisher Gesagten war es die Natur, die dem Genie die Regel zur schönen Kunst bzw. – umfassender - das Recht zum Menschsein vergönnt hat. Jetzt ver-„gönnt“ an Stelle dieser Natur die „Muse“, und die Begabung („gegeben“) stammt von einem Gott. „Der Gott“ der Musen ist Apollo. Er nimmt die Stelle der höheren Natur ein, und die „Muse“ fungiert – entsprechend dem von Kant angenommenen „Schutzgeist“ - als Allegorie der Inspiration, durch die sich die höhere Natur äußert. In der griechischen Mythologie ist Apollo nicht nur der Gott der schönen Künste, sondern auch der Wissenschaften.34 Die Anspielung auf Apollo zeigt erneut, dass Goethe die von Kant geforderte Einschränkung des Genies auf schöne Kunst nicht akzeptiert und unter einem Dichter den versteht, der das „Handeln und Tun“ in den Wissenschaften mitbestimmt. Bezogen auf Kants „Kritik der Urteilskraft“, die in „ästhetische“ und „teleologische“ Urteilskraft aufgeteilt ist, schreibt Goethe: „Mich freute, daß die Dichtkunst und vergleichende Naturkunde so nah miteinander verwandt seien, indem sie sich derselben Urteilskraft unterwerfen.“35 Und vom Mathematiker sagt er: „Der Mathematiker ist nur in so fern vollkommen, als er das Schöne des Wahren in sich empfindet.“36

Wie oben dargestellt, hat Goethe mit den „Metamorphosen“ versucht, in der niederen Natur Formen der höheren, gewaltfreien, sittlichen Natur zu finden, um seinen Naturbegriff durch eine nur scheinbar niedere Natur zu begründen und abzusichern. Als ihm dies auf solche Weise nicht gelang, gab er den Wunsch nicht auf, sich eine umfassende Gesamtnatur denken zu können, sondern griff auf ein metaphorisches Modell zurück, das er bereits in der Erdgeist-Szene des „Urfaust“ gestaltet hatte. Schon der Begriff Erd-Geist lässt sich als Symbol einer Natur denken, in der Geist, also etwas Belebendes, wirksam ist. Nach Goethe existiert „die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie“37. Dies ist eine ähnliche Formulierung wie „Gott in der Natur, die Natur in Gott“. Die Selbstcharakterisierung des Erdgeistes lautet:

    In Lebensfluten, im Tatensturm
    Wall ich auf und ab,
    Webe hin und her!
    Ein ewiges Meer,
    Ein wechselnd Weben,
    Ein glühend Leben,
    So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit
    Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. (V. 501-509)

Demnach nimmt der Erdgeist Einfluss auf geistige ‚Taten‘ (vgl. ‚Sturm‘ als Symbol des Heiligen Geistes38) und gestaltet so die durch „Lebensfluten“ und „glühend Leben“ symbolisierte Erd-Natur. „Lebensfluten“ und „glühend Leben“ sind dann die Urkräfte, über deren Einwirkungen auf die Erde später unter den Begriffen ‚Neptunismus‘ und ‚Vulkanismus‘ gestritten wurde. Es existiert aber nicht nur der „Geist nie ohne Materie“, sondern er existiert auch kaum ohne Mensch. Wenn dies stimmt, ist der Erdgeist eng mit dem Genie verwandt. Indem dieses Erd-Geist-Genie den ‚Geist‘, das Bewusstsein, Denken und Fühlen seiner Zeit beeinflusst, be-‚wirkt‘ es Kultur und ‚schafft‘ in der „Zeit“, in der Geschichte, das „lebendige Kleid“ einer Natur, die erst damit ‚bekleidet‘ zur höheren, deshalb als „Gottheit“ bezeichneten Natur wird.39

Bis ins Alter hat Goethe das Webstuhl-Gleichnis beibehalten, um seinen Naturbegriff zu erläutern. Es erscheint um 1800 im „Vorspiel“, wo der Theaterdichter vom „Dichter“ - der als Begriff des Dichter-Genies auch der Erdgeist sein könnte – sagt, und zwar im Zusammenhang mit den oben zitierten Versen zum „Menschenrecht“:

     Wodurch bewegt er alle Herzen?
     Wodurch besiegt er jedes Element? [...]
     Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge,
     Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt, [...]
     Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
     Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt? [...]
     Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart. (V. 138-57)

Hier ist die Natur als ein Wesen dargestellt, das sowohl eine ewigen, gleich-gültigen - mechanischen, magnetischen, organischen - Gesetzen unterworfene „Materie“ hervorbringt als auch Menschen mit einem Bewusstsein begabt, das im Einklang mit diesen Gesetzen die Erde verändert und Kultur schafft. Auch diesem Bild liegt der Webstuhl zugrunde40: Die durch den auf die „Spindel“ gezwungenen „Faden“ symbolisierten Naturgesetze sind vorgegeben, aber wie sie gebraucht, wie sie miteinander verflochten werden, welche Kulturen, welche Epochen, welche technischen Veränderungen dabei entstehen, das bewirkt der Mensch. Wenn dies unter dem Einfluss der im Dichter durch die „Natur“ offenbarten „Kraft“ geschieht, dann ist es „rhythmisch“, dann entsteht eine den Formen der Poesie, überhaupt der schönen Kunst analoge Kultur und gesellschaftliche Welt. Entsprechend sagt Wilhelm Meister beim Anblick der „reinsten, schönsten, würdigsten Baukunst, die er gesehen hatte“: „Ist doch wahre Kunst [...] wie gute Gesellschaft: sie nötigt uns auf die angenehmste Weise das Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist.“41    

Noch umfassender ist das Webstuhl-Gleichnis gestaltet in dem späten Gedicht „Antepirrhema“. Zuerst stand es am Ende der mit „Bedenken und Ergebung“ überschriebenen Überlegungen, wo auch die oben aus Yoshihito Moris Abhandlung zitieren Sätze zu finden sind.42 Oberflächlich gesehen parodiert dieses Gedicht Mephistos Verse in der Schüler-Szene (V. 1922-27), aber seinem Wesen nach schließt es eher an die Selbstdarstellung des Erdgeistes an:

    So schauet mit bescheidnem Blick
    Der ewigen Weberin Meisterstück,
    Wie Ein Tritt tausend Fäden regt,
    Die Schifflein hinüber herüber schießen,
    Die Fäden sich begegnend fließen,
    Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt,
    Das hat sie nicht zusammen gebettelt,
    Sie hat’s von Ewigkeit angezettelt,
    Damit der ewige Meistermann
    Getrost den Einschlag werfen kann.43

Dem Bildbereich des Webens entsprechend dürfte die Natur hier nur in einem eingeschränkten Sinne „ewige Weberin“ genannt werden. Sie hat nur – analog der ‚Spinnerin‘ im „Vorspiel“ - die Fäden geschaffen und auf dem Webstuhl die nicht veränderbaren Kettfäden eingerichtet (ein anderes Wort für ‚Kette‘ ist ‚Zettel‘). Aber der eigentliche Weber ist der, der den „Einschlag“ (‚Schuss‘) wirft und damit dem Gewebe seinen Zusammenhalt und sein Muster gibt. Die Natur wird hier also wohl nur deswegen als „ewige Weberin“ bezeichnet, weil sie auch das beeinflusst, was der „ewige Meistermann“ tut. Darauf ist durch das gemeinsame Attribut „ewige“ hingewiesen. Und dennoch ist der ‚Weber‘ kein Teil des Webstuhls, keine Maschine, sondern ein freier Mensch, der auch gegen die höhere Natur ‚weben‘ und ‚handeln‘ kann.44 Zum „Meistermann“, der Hand in Hand mit ihr „der ewigen Weberin Meisterstück“ be-‚wirkt‘, wird er erst als Genie, ‚durch welches die Natur das Recht, die Regel zum Menschsein gibt‘.

 In der Ausgabe letzter Hand hat Goethe das Gedicht „Antepirrhema“ unmittelbar hinter die „Metamorphose der Tiere“ gesetzt als Abschluss der Gedichte, die sich mit dem Begriff einer höheren Natur beschäftigen. Goethe konnte diese höhere, soziale Natur nur durch den humanen Menschen begründen, der nicht nach dem Recht des Stärkeren, sondern aus „Lieb’ und Freundschaft“ handelt, „hilfreich und gut“45 ist, wie es in dem „Das Göttliche“ überschriebenen Gedicht heißt. Wie Kant aus den Wesensmerkmalen schöner Kunst auf eine ästhetische Natur geschlossen hat, scheint Goethe von der Empfänglichkeit des Menschen für das Wahre, Schöne und Gute auf eine höhere Natur zu schließen, die von Ewigkeit her, also schon bevor die Zeit durch den Menschen in die Welt gekommen war, den Zweck verfolgt, mithilfe des Genies eine humane Kultur zu bewirken: „Sie [die Natur] hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe [...].“46

Sowohl „Ewigkeit“ wie die Attribute „ewigen“ bzw. „ewige“ drücken aus, dass ein solcher Naturbegriff mit den Zeit und Raum unterworfenen Erkenntniskategorien nicht zu fassen ist. Goethe sagt zwar: „Ich gebe gern zu daß es nicht die Natur ist die wir erkennen, sondern daß sie nur nach gewissen Formen und Fähigkeiten unseres Geistes von uns aufgenommen wird.“47 Aber er hat zugleich immer wieder versucht, diesen „Geist“ selbst durch Analogien und Personifizierungen, aber auch als „Idee“ ‚begreiflich‘ zu machen. So formuliert er im Jahre 1815 sein „allgemeines Glaubensbekenntnis“:

    „a. In der Natur ist alles was im Subjekt ist.
     y. und etwas drüber.
     b. Im Subjekt ist alles was in der Natur ist.
     z. und etwas drüber.

b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis in den wir gewiesen sind. Das Wesen, das in höchster Klarheit alle viere zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher Gott genannt.“48

Diese Parallelisierung von „Natur“ und „Subjekt“ zeigt, wie der Mensch, wenn er die Natur erforscht, sich selbst erkennt, und zugleich, wie er auf die Natur einwirkt, wenn er sein Subjekt, also sich selbst und sein Bewusstsein von sich selbst,  verändert. Da es das Genie ist, das dem Subjekt (der Menschheit) Sprache und Ausdruck verleiht, und da am ehesten das Genie „etwas drüber“ ahnen kann, was Natur oder Subjekt übersteigt, kommt es dem sehr nahe, was in diesem Glaubensbekenntnis unerforschlich ist und „Gott“ genannt wird.

Vielleicht ist es mir zu zeigen gelungen, warum nach Goethe „dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wonach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge“. Diese „Idee“ ist wohl eher zu sehen als „ästhetische Idee“, „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann“, und weniger als „Vernunftidee“, welche nach Kant „umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann49 und sich folglich weder erkennen noch beweisen lässt. Sowohl die personifizierte höhere „Natur“ wie der personifizierte „Gott“ sind Projektionen des besonders vom Genie empfundenen humanen Wesens. Der Dichter als Genie ist wohl deshalb als „ewiger Meistermann“ und damit in die Nähe Gottes gerückt dargestellt, weil auch seine „Natur“ nicht fassbar, aber dennoch das von ihm ‚Gewirkte‘ und ‚Bewirkte‘ erfahrbar ist. Herder hat formuliert, was diesen Dichter auszeichnet: „Aber der, in dessen Seele sich eigne Gedanken erzeugen und einen Körper sich selbst bilden, er, der nicht mit dem Auge allein, sondern mit dem Geist siehet und nicht mit der Zunge, sondern mit der Seele bezeichnet, er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schöpfungswerkstätte zu belauschen, neue Merkmale ihrer Wirkungen auszuspähen und sie durch künstliche Werkzeuge zu einem menschlichen Zweck anzuwenden: er ist der eigentliche Mensch, und da er selten erscheint, ein Gott unter den Menschen.“50

1   Mori, Yoshihito: Goethe und die japanische Naturanschauung. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 86/87/88. (1982/1983/1984.) S. 235-246. S. 238.
2   Schmidt, Alfred: Natur. In: Goethe-Handbuch. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Bd. VI 2. Stuttgart; Weimar 1998. S. 771.
3   WA I 1. S. 78. – Ich habe Zitate aus der Weimarer Ausgabe gelegentlich behutsam modernisiert.
4   WA I 36. S. 72.
5  Dieser Gedanke steht schon in Herders „Ideen“: „Wer würde in der Raupengestalt den künftigen Schmetterling ahnen? Wer würde in beiden ein und dasselbe Geschöpf erkennen, wenn es uns die Erfahrung nicht zeigte?“ (Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berlin 1965. Bd. 1. S. 190.)
6   Fett gedruckte Hervorhebungen sind von mir.
7   WA I 3. S. 87.
8   WA I 3. S. 90 f.
9  Kant spricht von „Natur- oder Kunstschönheit“. (Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. Von Karl Vorländer. Hamburg 1959. § 51. S. 175.)
10 Kant [Anm. 9]. § 9. S. 55.
11  Kant [Anm. 9]. § 46. S. 160.
12  Kant [Anm. 9]. § 46. S. 160.
13 Kant [Anm. 9]. § 22. S. 85.
14 Kant [Anm. 9]. § 46. S. 161.
15 Kant [Anm. 9]. § 49. S. 167-169.
16 WA I 47. S. 322.
17 WA IV 15. S. 213.
18 Vgl. Kant [Anm. 9]. § 46. S. 161.
19 Vgl. dazu die Briefe 14-16. (Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: F. Sch.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 6. Auflage. München 1980. S. 570-669. S. 611-622.) - Schiller sagt, dass „es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandelt“ (ebenda. 2. Brief. S. 573).
20 Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner. [Anm. 19] S. 394-433. S. 400.
21 Ebenda. S. 425.
22 Ebenda. S. 421. – Zu Schillers Ästhetik vgl.: Binder, Alwin: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist.“ Schillers Ästhetik und ihre heutige Relevanz. In: Arbeit ohne Sinn – Sinn ohne Arbeit. Dokumentation des 3. Kleinen Universitätstages Ahaus. Hrsg. von Claus Urban und Joachim Engelhardt. S. 20-39.
23 Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: I. K.: Werke. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. Bd. 4. S. 385-463. S. 429.
24 Vgl. dazu: „Die Natur füllt mit ihrer grenzenlosen Produktivität alle Räume. Betrachten wir nur bloß unsere Erde: alles, was wir bös, unglücklich nennen, kommt daher, daß sie nicht allem Entstehenden Raum geben, noch weniger ihm Dauer verleihen kann.“ (WA II 11. S. 156.) 
25 Kant [Anm. 9]. § 47. S. 162.
26 Vgl. dazu: Binder, Alwin: Das Vorspiel auf dem Theater. Poetologische und geschichtsphilosophische Aspekte in Goethes Faust-Vorspiel. Bonn 1969. S. 37-46. Und: Binder, Alwin: Faustische Welt. Interpretation von Goethes „Faust“ in dialogischer Form. Urfaust – Faust-Fragment – Faust I. Dritte Auflage. Münster 2003. S. 212-214.
27 WA I 29. S. 146.
28 „Es ist also gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist und der Erhaltung des gesamten menschlichen Geschlechts dient, da es bei jedem einzelnen die Wirksamkeit der Eigenliebe mäßigt. Das Mitleid treibt uns an, jedem Leidenden ohne Überlegung Hilfe zu leisten. Es vertritt im Naturzustande die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend [...].“ (Rousseau, Jean Jacques: Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Berlin 1955. S. 40.)
29 Dritter Gesang. (WA I 50. S. 209 f.)
30 In der „Hexenküche“, wo es ebenfalls darum geht, einen „Trank“ zu brauen, sagt Mephistopheles: „Es war die Art zu allen Zeiten, Durch Drei und Eins, und Eins und Drei, Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.“ (V. 2560-62) (Vgl. dazu Binder, Alwin: Faustische Welt. [Anm. 26.] S. 222-225.)
31 Vgl. Binder, Alwin: Faustische Welt. [Anm. 26] S. 212-236.
32Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters im Mai 1821. (WA I 13,1. S. 123 f.)
33 Ebenda. S. 123.
34 Vgl. Hederich, Benjamin: Gründliches Mythologisches Lexikon. Leipzig 1770. Sp. 333.
35 WA II 11. S. 51.
36 WA II 11. S. 138.
37 Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz „Die Natur“. (WA II 11. S.11.)
38 Vgl. Apostelgeschichte 2,2.
39 Vgl. Binder, Alwin: Faustische Welt. [Anm. 26] S. 37-39.
40 Vgl. Binder, Alwin: Das Vorspiel auf dem Theater. [Anm. 26]. S. 47-57.
41 Wilhelm Meisters Lehrjahre. Achtes Buch, 3. Kapitel. (WA I 23. S. 161.)
42 Bedenken und Ergebung. (WA II 11. S. 57.)
43 WA I 3. S. 92.
44 Das habe ich vor 35 Jahren in meiner Abhandlung zum „Vorspiel“ noch anders gesehen. - Es mag befremdlich sein,  dass mit dem „ewigen Meistermann“ nicht Gott, sondern der Künstler, vor allem der Bewusstsein verändernde Dichter gemeint sein soll. In einem Brief spricht Goethe von der „Natur, welche nach allen Seiten hin als unendlich und doch immer als Eins angeschaut wird. Das Instrument ist so vollkommen, daß der große Capellmeister von Ewigkeit zu Ewigkeit gar bequem darauf spielen kann“ (An C. H. Schlosser. 5. 5. 1815. - WA IV 25. S. 301.). Auch in dieser Metaphorik ist die Formel „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ kein Attribut eines als Person gedachten Gottes, sondern drückt die Unbegrenztheit der Möglichkeiten aus, die sich aus dem Zusammenspiel von Natur und Genie ergeben.
45 WA I 2. S. 83.
46 Die Natur. (WA II 11. S. 8.) – Diesen Text - der von G. Chr. Tobler stammen soll (vgl. Schmidt [Anm. 2] S. 764 - hat Goethe anonym veröffentlicht und zustimmend kommentiert. (Vgl. Anm. 37.)
47 An Schiller am 6. 1. 1798 (WA IV 13, S. 10.)
48 An C. H. Schlosser [Anm. 44]. S. 311 f.
49 [Anm. 9] § 49. S. 168. – Solche Vernunftideen, die Kant auch „transzendentale Ideen“ nennt, sind „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“. (Kant, Immanuel. Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Raymund Schmidt. Hamburg 1956. S. 367.)
50 Herder:  Ideen [Anm. 5]. S. 356.

[Home] [Lebenslauf] [Publikationen] [Einführungen] [zu Lyrik] [zu Goethe] [zu and. Autoren] [zu Kinderliteratur] [Literaturdidaktik] [Biographisches] [Katalogbeiträge] [Aufsätze] [Ausstellung I] [Austellung II] [Möbel] [Aktuelles]