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Kapitel 16 - Beispiel 9

Eugen Gomringer: schweigen

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Dieser Text erschien 1953 in Eugen Gomringers Gedichtsammlung „33 Konstellationen”. Obgleich diese „Konstellation” nicht wie ein ‚normales’ Gedicht aussieht, kann sie wie ein Gedicht gelesen werden. Denn selbst wenn sie - aus der Sicht des konkreten Autors - kein Gedicht sein soll, steht sie in Opposition zu herkömmlichen Gedichten, die durch diesen Text vielleicht parodiert werden. Indem diese „Konstellation” veröffentlicht wurde, wird ihr unterstellt, dass sie bedeutend ist. Auf ihre Bedeutung verweisen auch die Wiederholungen des Wortes „schweigen”, denn sie zeigen, dass das Wort „schweigen” nicht, wie in natürlicher Sprache, verbraucht ist, nachdem es gesprochen wurde, sondern als poetisches Zeichen bedacht sein soll.

Beim Lesen der Wörter des Gedichts entsteht etwas Eigenartiges dadurch, dass man „schweigen” spricht. Das erinnert daran, dass Schweigen und Sprechen zusammengehören, komplementäre Begriffe sind: Sprechen enthält Schweigen und umgekehrt. Eine Irritation, gewissermaßen ein ‚Stolperstein’, ergibt sich an der Leerstelle. Man kann nicht über sie hinweglesen. Aber wie lange soll man an dieser Stelle schweigen? Vielleicht so lange, wie „schweigen” dauert, wenn man es ausspricht. Hier ist dann das Wort - nicht der Begriff - „schweigen” identisch mit seiner Eigenschaft als Lautzeichen. Während der Sprechpause wird vernehmbar, dass jetzt das zuvor ausgesprochene Wort „schweigen” verschwiegen wird. Die ersten sieben ausgesprochenen Wörter bereiten auf das Schweigen des Wortes „schweigen” vor, während die nachfolgenden sieben Wörter die Erinnerung an das ‚gehörte’ Schweigen bewahren. Dabei ist es gleichgültig, ob man die „Konstellation” vertikal oder horizontal liest. Das geschriebene und gesprochene Wort „schweigen” gibt der Leerstelle nicht nur Bedeutung, sondern befreit sie auch davon, Bedeutung tragen zu müssen.

Liest man den Text laut, dann hört man seine völlige Klangkorrespondenz. Alle seine Wörter sind identische (Anfangs-, Binnen- und End-)Reime. Aber dabei wird der Begriff des Reims ad absurdum geführt. Ebenso ist es bei der Alliteration. Die Klangkorrespondenzen offenbaren ein Zwangssystem. Um die Bedeutung dieser Beobachtung zu erläutern, werde ich versuchen, mich dem Text auf eine andere Art zu nähern.

Wörtlich genommen sind „Konstellationen” ‚Sternbilder’. Die entstehen allein durch den Betrachter, der auf einige benachbarte Sterne, die nichts miteinander zu tun haben, ein Bild projiziert. Sobald man dieses Bild verinnerlicht hat, kann man die einzelnen Sterne nicht mehr für sich sehen. Manche Sternbilder sind einprägsamer als andere. Jedes Gedicht kann als ‚Sprach-Konstellation’ gelesen werden. Aber selten ist sie so markant und einprägsam wie „schweigen”. Lässt sich diese „Konstellation” lesen als Abbild ihrer Bedeutung?

Nehmen wir an, die Bedeutung sei „schweigen”, dann dürfte der Text nicht gelesen, sondern nur stumm, am besten ‚sprachlos’, angeschaut werden. Denken wir uns „schweigen” als Überschrift und die tatsächlich verwendeten 136 Buchstaben bedeutungslos nur als ‚Bausteine’ der „Konstellation”, dann wäre „schweigen” eine scharf umrissene Fläche oder ein scharf umrissener Block mit einer Öffnung oder einer Aussparung im Zentrum. Man kann sich vorstellen, dass das Sprechen vom Zentrum des Schweigens angezogen und von ihm aufgesogen wird. Dieses Schweigen wäre sprach- und kommunikationsfeindlich.

Ein anderer Aspekt tut sich auf, wenn man bedenkt, dass Schweigen kein Stummsein ist; denn der Schweigende könnte sprechen. Hier ließe sich fragen: Hat er nichts zu sagen, will er nichts sagen, oder darf er nichts sagen? So gesehen ist die Leerstelle im Text vielleicht der Platzhalter für dieses ‚Nichts’. Oft gilt der Schweigende als der Weise, als der Philosoph, der nur spricht, wenn er etwas Bedeutendes zu sagen hat. Dann ist Schweigen ein Vorwurf an die Sprechenden, Geschwätzigen, die reden, obgleich sie mehr Grund zum Schweigen hätten als die, die schweigen. Um so mehr will man wissen, was denn wert sei, verschwiegen zu werden. Dass nicht nur etwas, sondern die Wahrheit verschwiegen sein könnte, erzeugt Interesse, das Schweigen zu brechen.

Sobald man also über das „schweigen” nachdenkt, kann man nicht mehr bei der Vorstellung bleiben, der Text sei ein bloßes Gebilde, das wie ein Klotz dasteht und nicht zeigt, was es hinter dem ‚Fenster’ oder der ‚Fassade’ verbirgt. Es ist keine schwarze oder graue Fläche, mit einer Aussparung in der Mitte und mit dem Titel „schweigen”, sondern eine Sprachfläche oder ein Sprachgebäude,  das  als  solches an ‘Satz- und Vers-Bau’ erinnert, zumal es aus einem Begriff des Wortfelds ‚Sprache’ gebildet ist.

Indem das Gedicht „schweigen” an den Satz-Bau der natürlichen Sprache einschließlich der stilistischen Regeln erinnert, kann einem bewusst werden, dass Grammatik und Stilistik auch Zwangssysteme sind, die verlangen, der Sprechende solle seine Gedanken und Gefühle den vorgegebenen Bahnen anpassen. Was sich dem nicht fügt, muss man, um ‚korrekt’ zu sein, verschweigen. Lyrik kann begriffen werden als Protest gegen dieses Zwangssystem, weil der Lyriker sich die sogenannten ‚dichterischen Freiheiten’ nehmen darf. Unter diesem Gesichtspunkt ist „schweigen” ein mehrdeutiges lyrisches Gebilde. Einerseits zeigt es sich als sehr strenge Form, die für Individuelles keinen Raum zu lassen scheint, und andererseits nimmt es sich die Freiheit, jede Art von Konvention und Tradition zu negieren.

Es ist denkbar, dass das lyrische Subjekt mit dem wiederholten „schweigen” sagt, überall sei „schweigen”, „schweigen” habe sich ausgebreitet und bilde eine Mauer. Aber zugleich kann bedacht werden, dass der Begriff ‚schweigen’ sich nicht so losgelöst von einem handelnden Subjekt denken lässt wie beispielsweise ‚regnen’. Denn so abstrakt diese „Konstellation” äußerlich erscheint, innerlich gehört zu jedem „schweigen” ein konkreter Mensch, der schweigt. Die Mauer des Schweigens ist so gesehen eine Mauer von Schweigenden.

Wenn man sich die Ansammlung von „schweigen” mit Menschen verbunden denkt, die gewillt sind, zu schweigen, dann liegt es näher, diese Wörter nicht als Infinitive aufzufassen, die ihrem Wesen nach auf keine - grammatische - Person bezogen sind, sondern als Imperative. Die Aussage des lyrischen Subjekts heißt dann ‚lasst uns schweigen’. Vielleicht nur im Sinne von ‚Reden ist Silber, Schweigen ist Gold’, aber vielleicht auch in der Bedeutung: ‚Nicht nur, damit ihr wahrnehmen könnt, was in eurer Welt gesprochen wird, sondern vielleicht noch mehr, damit ihr sensibel seid für das, was verschwiegen wird, müsst ihr erst schweigen.’ „schweigen” enthielte dann die Aufforderung zum genauen Hören bzw. zum Zwischen-den-Zeilen-lesen.

In diesem Text stehen Buchstaben und Wörter streng gegliedert ‚in Reih und Glied’, als ob eine Kompanie Soldaten angetreten wäre. Das verweist darauf, dass Schweigen, auch wenn es das Schweigen eines Subjekts ist, nicht immer freiwillig geschieht, sondern aufgezwungen sein kann. Vor allem während des Krieges konnte es lebensbedrohend sein, das nicht zu verschweigen, was die Herrschenden verschwiegen haben wollten. So betrachtet kann die Konstellation „schweigen” die Situation eines ganzes Volkes wiedergeben, das gezwungen wird, zu schweigen. Die Leere im Zentrum wäre dann vielleicht als Stelle desjenigen zu sehen, der nicht geschwiegen, sondern gesprochen hat. Er wäre sozusagen ,vaporisiert’, wie es in Georges Orwells Roman „1984” heißt. Man kann sich die Leerstelle auch als Grab oder Massengrab vorstellen, das von denen schuldbewusst umstanden wird, die geschwiegen haben und den Sprechenden und den mit Gewalt am Sprechen Gehinderten mit ihrem Sprechen nicht zu Hilfe gekommen sind. Unter solchen Voraussetzungen wirkt die „Konstellation” „schweigen” wie ein Mahnmahl mit der ‚Botschaft’, dort zu sprechen, wo „schweigen” verlangt wird.

Über diesen Text wurde geschrieben: „Was als  geistige Figur gemeint ist, geht eigentlich über einen bloßen graphischen Gag nicht sehr weit hinaus, die Evidenz der Textstruktur, die ihr nicht abzusprechen ist, wirkt allzu vordergründig, der naturalistische Charakter der visuellen Mitteilung hat etwas Naiv-Banales an sich, das auch der Bedeutungshof des Wortes ‚schweigen’ nicht zu kaschieren vermag, und man fragt sich, ob die optische Dimension des Gedichts mehr als eine illustrative Funktion hat, wie weit in ihr meditative Kräfte freigesetzt werden.” Wie weit eine „geistige Figur” über einen „graphischen Gag” hinausgeht und „wie weit in ihr meditative Kräfte freigesetzt werden”, hängt auch vom Betrachter und ‚Bedenker’ der „geistigen Figur” ab. Wenn man über sie nachgedacht hat, lässt sich diese ‚Mauer des Schweigens’ kaum mehr aus dem Bewusstsein entfernen.

 

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