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                         Textprobe

9.2.1.2  Momente freiheitlichen Leistungsstrebens als Ausdruck
menschlicher Natur

Dass auch wesentliche Momente der Leistungsgesellschaft, in welcher die Zeit der gemeinsame Nenner ist (Leistung = Arbeit / Zeit), aus der Natur hervor- getrieben wurden, ist sehr kunstvoll ausgedrückt durch die Beziehung zwischen Da und Wenn in den Versen  184-205:

So gieb mir . . .  
Da ich noch . . .  
Da
sich ein . . .  
Ununterbrochen . . . 
Da Nebel mir . . .
Die Knospe . . .  
Da ich die . . .
Die alle Thäler
. . . 

Der Jugend . . .
Wenn dich in . . .
Wenn mit Gewalt . . .
Sich allerliebste . . .
Wenn fern des . . .
Vom schwer . . .
Wenn nach dem . . .
Die Nächte . . .

Unter den Konjunktionen der deutschen Sprache ist ‚Da’ am ehesten der Knospe vergleichbar, weil dieses – hier als Relativadverb gebrauchte – Wort ‚keimhaft’ nicht nur lokale und kausale Dimensionen in sich trägt, sondern auch temporale (es wäre hier durch ‚als’ ersetzbar). Das genau parallel zu Da gesetzte Wenn zeigt nun, dass die ursprüngliche Naturwelt ‚aufgesprungen’ ist und sich in eine fast nur noch durch die Zeit bestimmte Welt gewandelt hat: Alles ist jetzt nicht mehr bedingungslos Da, sondern geschieht nur Wenn, das heißt unter der Voraussetzung, dass etwas anderes zuvor geschieht, sei es als objektiv eintretendes Ereignis oder als subjektiv vorgesetzter Zweck. In der modernen Welt des Theaterdichters trägt kein Geschehen seinen Grund in sich selbst, sondern alles ist eingeordnet in die Koordinaten Raum (fern), Zeit (schnell) und Zweck (Ziel) (202 f.). Unmissverständlich sagt Goethe selbst: „Die Scheidung zwischen Geist und Körper, Seele und Leib, Gott und Welt war zu Stande gekommen […], indem der Mensch seine Freiheit behaupten will, muß er sich der Natur entgegensetzen […].” Damit ist zumindest ein Aspekt des ‚bürgerlichen Subjekts’ aus der modernen Gesellschaft nicht wegzudenken, und es kann nur darum gehen, das Sich-der-Natur-Entgegensetzen, also deren Beherrschung und Ausbeutung, so zu gestalten, dass sich dieses Entgegensetzen nicht gegen den Menschen und seine Lebensbedingungen richtet. Wie das zu denken sei, erläutert die Lustige Person.

9.2.2    Die Idee einer humanen Gesellschaft als Hintergrund der
             Aussagen der Lustigen Person
9.2.2.1 Anmuth als Korrektiv der Leistungsgesellschaft

Erst die Verse 206-213 sind die eigentliche Antwort der Lustige Person auf die Rückwendung des Theaterdichters zum Ursprung. Es geht nun um das entscheidende Problem, ob in der unter der regulativen Idee des ‚bürgerlichen Subjekts’ gestalteten Gesellschaft die Menschheit in einen Zustand pervertiert, der dem Hobbes’schen entspricht, oder ob es denkbar ist, diese Idee so zu modifizieren, dass das autonome und freiheitliche Handeln des Menschen ihn nicht seines Menschseins beraubt. Die von der Lustige Person behauptete Lösung dieses scheinbar unlösbaren Problems formuliert sie in vier Versen: 

Doch ins bekannte Saitenspiel
Mit Muth und Anmuth einzugreifen,
Nach einem selbgesteckten Ziel
Mit holdem Irren hinzuschweifen,

    Es wird für die Schüler trotz der Hilfe durch die Begleittexte nicht einfach sein, die Bedeutung dieser Verse zu erkennen und beispielsweise zu sehen, dass nach einem selbgesteckten Ziel die Wettlauf-Metaphorik (202 f.) wieder aufnimmt. Mit dem bekannten Saitenspiel ist zunächst die Lyra als Symbol des Dichters gemeint. Stellvertretend bezeichnet sie den ‚Hand’-lungs-Bereich des Dichters, und in dem Maße, wie der Dichter zugleich die Handlungen des ‚Menschen’ symbolisiert, kann das Saitenspiel auch stehen für den Handlungsbereich des Menschen, also für den Bereich der Kultur schlechthin. Da im Vorspiel der Theaterdichter selbst schon im Bildbereich der Musik gesprochen hat, spielt bekannte auch auf diese Stellen an (vgl. 6.4). Denn auch die menschliche Seele wird als besaitet betrachtet, so dass sich eine enge Verknüpfung zwischen den Handlungen des Dichters und deren Wirkungen in der menschlichen Seele – als Ausdruck für die Person – und auf die menschlichen Handlungen ergibt. Aber selbst wenn alle Menschen wie ein von der Natur gestimmtes Saitenspiel zu denken sind, kann dieses nur erklingen, wenn es entsprechend gespielt oder durch entsprechende Töne angeregt (aufgeregt) wird.
    Am leichtesten ist vielleicht die Zeile Nach einem selbgesteckten Ziel als Formel für menschliche Freiheit aufzulösen. Denn eine Handlung lässt sich als freie erkennen, wenn der betreffende Mensch im voraus bestimmt, was er schaffen will, und dann seine Handlungen so zweckmäßig koordiniert, dass das selbgesteckte Ziel tatsächlich erreicht wird. Je zweckmäßiger dies geschieht, desto kürzer ist der Weg und desto schneller wird das Ziel erreicht. In einer reinen Leistungsgesellschaft wird jeder bestrebt sein, die Distanz zwischen Zielsetzung und Zielerreichung so zu verringern, dass sie als gerade Linie zwischen den beiden Punkten darstellbar ist. Das heißt aber zugleich, dass ein solcher Mensch vollkommen von etwas Zukünftigem bestimmt wäre. „Kann aber” – so fragt Schiller – „wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgendeinem Zwecke sich selbst zu versäumen?”
    Als Korrektiv nennt die Lustige Person  Mit holdem Irren hinzuschweifen. Durch diese Bewegung wird das Ziel auch erreicht, aber nicht mehr ganz so zweckmäßig. Die Be-Weg-ung der Handlung ist so, dass für die jeweilige Gegenwart noch ‚Raum’ bleibt. Ein bloßes Irren müsste den Protest des Verstandes auslösen, deshalb erhält dieses Irren das Attribut hold in der Bedeutung von „liebenswürdig”; ein liebenswürdiges ist auch ein anmutiges Irren, das auch der sonst nur an Zweckmäßigkeit orientierte Verstand akzeptieren kann, weil es schön ist. Jetzt wird deutlich, dass die Verse 208 f. den Gedanken des Verses 207 präzisiert haben: Mit Muth und Anmuth einzugreifen. Muth steht hier für freies und kühnes Handeln, wie es die Erschließung und Beherrschung der Natur erfordert, aber diesem Mut ist als Korrektiv die Anmuth beigegeben, was bedeutet, dass die mutigen Handlungen zugleich schön und liebenswürdig sein sollen, so dass sie nicht nur der an Zweckmäßigkeit orientierten Freiheit des Verstandes genügen, sondern auch der das moralische Handeln bestimmenden Freiheit der Vernunft. Vielleicht können die folgenden Sätze Schillers diesen Zusammenhang zusätzlich erläutern:

Der Mensch hat als Person unter allen bekannten Wesen das Vorrecht, in den Ring der Notwendigkeit, der für bloße Naturwesen unzerreißbar ist, durch seinen Willen zu greifen und eine ganz frische Reihe von Erscheinungen in sich selbst anzufangen [dies entspricht dem selbgesteckten Ziel]. Der Akt, durch den er dieses wirkt, heißt vorzugsweise eine Handlung, und diejenigen seiner Verrichtungen, die aus einer solchen Handlung herfließen, ausschließungsweise seine Taten. Er kann also, daß er eine Person [d. h. ein freiheitliches Wesen] ist, bloß durch seine Taten beweisen.”

Die Vernunft hingegen als moralische Instanz stellt zusätzliche Forderungen:

„In der Anmut hingegen, wie in der Schönheit überhaupt, sieht die Vernunft ihre Forderung in der Sinnlichkeit erfüllt, und überraschend tritt ihr eine ihrer Ideen [die Freiheit] in der Erscheinung entgegen […], und eine Anziehung des sinnlichen Objekts muß erfolgen. Diese Anziehung nennen wir Wohlwollen – Liebe; ein Gefühl, das von Anmut und Schönheit unzertrennlich ist. […] Die Liebe allein ist also eine freie Empfindung, denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freiheit, aus unsrer göttlichen Natur.”

Versucht man, die hier dargestellte Idee eines ‚humanen Subjekts’ auf eine Figur zu reduzieren, so bietet sich die in den Kallias-Briefen vorgestellte schöne Linie an, wogegen man in der geraden Linie zwischen zwei Punkten eine inhumane Figur zu sehen hätte. Es gälte demnach, zweckmäßiges Handeln so zu modifizieren, dass es schön ist:
 

Schöne Linie  1

Diese Darstellung (Abb. 11) kann auch verdeutlichen, was Goethe meint, wenn er sagt: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst […]”, und entsprechend den „rechten Zweck” vom rechten Weg abhängig macht:

      „Jeder Weg zum rechten Zwecke
      Ist auch recht in jeder Strecke”

Die Verse 206-09 sind gewissermaßen die Formel des klassischen Gesellschaftsbildes, die einem, wenn man sie einmal erkannt hat, immer wieder begegnet. Dafür mögen die Textauszüge aus Schillers „Das Ideal und das Leben” (T 8.5) sowie aus den „Piccolomini” (T 8.6) repräsentativ sein. Besonders die letzte Stelle lässt sich wie ein Kommentar zu den Versen der Lustigen Person lesen.  

9.2.2.2 Die Synthese von Freiheit und naivem Empfinden als
             Ausdruck des ‘humanen Subjekts’

Die folgenden Verse der Lustigen Person bringen die hier als Gesellschaft des ‚humanen Subjekts’ bezeichnete Welt auf den Begriff Alter:

       Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht,
       Es findet uns nur noch als wahre Kinder
    .
    (212 f.)

Es dürfte inzwischen wohl auch für die Schüler einleuchtend sein, dass mit Alter nicht der Lebensabschnitt eines einzelnen Menschen gemeint ist, sondern ein Zeit-Alter. Wie man sich dies zu denken hat, lässt sich mit Hilfe von Schillers „Über Anmut und Würde” (T 8.4) besser verstehen. Es wird vor allem deutlich, dass mit Kinder nicht auf eine Vorzeit verwiesen wird, die wieder hergestellt werden sollte, sondern in der Verbindung mit wahre auf ein Verhaltensmodell, das nach Schiller aus „dem erwachenden Triebe nach Wahrheit und Simplicität” hervorgeht, aber freilich nur, wenn die „in allen menschlichen Herzen” liegende „moralische Anlage, aus welcher er fließt”, nicht verschüttet ist. Die Stelle der „lieblichen Idylle” vertritt nun die Dichtung des ächten Künstlers (105), in der das Fünkchen Wahrheit (171) wirksam ist, das der Mensch braucht, um die „Naturwidrigkeit unserer Verhältnisse, Zustände und Sitten”, womit auf das Hobbes’sche Menschenbild angespielt wird, so zu modifizieren, dass sich eine ‚naturgemäße’ menschliche Gesellschaft entfalten kann, in der die Menschen frei und zielgerichtet handeln und diese Handlungen und Taten doch die Analogie zum „entflohenen Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld” bewahren. In „Wilhelm Meisters Lehrjahren” steht entsprechend: „Uns rührt die Erzählung jeder guten Tat, uns rührt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir fühlen dabei, dass wir nicht ganz in der Fremde sind, wir wähnen uns einer Heimat näher zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt.” Das Naive, das Schöne, das Anmutige, das Kindliche, die Liebe sind nicht weniger Formen der menschlichen Natur als das Streben nach Selbstverwirklichung. Die „im Herzen von neuem” entzündete „Flamme” ist hier nicht die verderbende Fackel der Wahrheit, wie sie Schiller im „Lied von der Glocke” vorführt, sondern deshalb die „Flamme des Ideals”, weil sie von „Herzen” kommt (vgl. Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt; 179).

    Dieses „Ideal” als humane Synthese der beiden menschlichen ‚Naturen’ heißt in diesem Modell die Idee des ‚humanen Subjekts’. Es wird ausgedrückt durch die Verbindung von Gegensatzpaaren, die auf die beiden Naturen, deren Synthese eben die menschliche Natur ausmacht, verweisen. In Schillers Text ist das die Verbindung von „Wahrheit” und „Simplicität” und von „Mut” und „Vertrauen”; die folgende Tabelle (Abb. 12) kann verdeutlichen, wie häufig diese ‚klassische’ Synthese im Vorspiel formuliert ist, wobei so mehrdeutige Begriffe wie Alter, alt („Alter der Kindheit”/ ‚kindliches Alter der Menschheit’ sowie ‚alter Mensch’/ ‚vollendetes Zeit-Alter der Menschheit’) und Herz, beherzt (‚mutig’, ‚tapfer’ sowie ‚von Herzen kommend’ im Sinne von ‚naiv’ und ‚kindlich’) auf beiden Seiten der Synthese stehen bzw. – wie bei beherzt (228) – die Synthese für sich repräsentieren könnten:

Tabelle 1
Tabelle 2

Diese Synthese des klassischen Kunst- und Gesellschaftsideals hat Goethe in der „Metamorphose der Tiere” auf den Begriff  „bewegliche Ordnung” gebracht und diesen Begriff als den höchsten Begriff bezeichnet, den der Mensch zu verwirklichen in der Lage ist. (Vgl. T 8.7) „Schöner Begriff”, „sanfter Zwang” und „liebliche Gewißheit” korrespondieren den in dieser Tabelle aufgeführten Formulierungen. Im klassischen Schönheitsbegriff sind die Extreme vereinigt, deshalb vermag ein schönes Kunstwerk als Symbol der Sittlichkeit und damit als Regulativ der Leistungsgesellschaft zu fungieren. Und auch hier ist es die ‚inspirierte’ Kunst („die heilige Muse”, „vom Munde der Muse”),  durch die die „Natur” ihr „höchstes Geschöpf” befähigt, deren „höchsten Gedanken”, also die Idee des Humanen,  „nachzudenken”.

Im Vorspiel aber ist deutlicher dargestellt, dass es zur Verwirklichung dieser Idee weniger einer Theorie bedarf, sondern es vor allem darauf ankommt, durch schöne Kunst in den einzelnen Menschen diese Idee anzuregen und ihr einen Denk- und Gefühlsraum zu schaffen, in dem sie sich individuell erproben kann. Dahinter steht der Gedanke, dass der ästhetisch sensibilisierte Mensch auf Gewaltverhältnisse – ohne die zum Beispiel kein Staat auskommt – empfindlich reagiert und danach strebt, sie – im Beispiel etwa durch eine menschenwürdige Gesetzgebung – ‚schöner’ und damit auch humaner zu gestalten. Dies ist der Gedanke, welcher Schillers Konzeption der ästhetischen Erziehung zugrunde liegt, und er ist auch ausgedrückt im „Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters” (T 8.8).

 Es gilt nun noch zu fragen, ob im Vorspiel auch eine Diskussion geführt wird über die Form der Dichtung, der eine so große Wirkung auf die Menschheit zugetraut wird.

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