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Dialog 7: Land Strase

(U 453-456)

                                           Land Strase

      Ein Kreuz am Weege, rechts auf dem Hügel ein altes Schloß, in der Ferne ein                                                      Bauerhüttgen

 Faust:  Was giebts Mephisto hast du Eil?
             Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder?

 Meph:  Ich weis es wohl es ist ein Vorurtheil,
             Allein genung mir ists einmal zuwieder.

A. Hier sind Faust und Mephistopheles nun unter sich. Kannst du dieser kurzen Szene Bedeutung abgewinnen?
B.    Da nur wenige Worte gesprochen werden, sollte man meinen, sie müssten sehr bedeutend sein. Immerhin tragen sie eine ganze Szene. Denn diese Szene sieht nicht aus, als ob sie ein Fragment wäre.
A.    Auch wenn Mephistopheles nichts von Vorurtheil sagte, könnte man sehen, dass er durch sein Handeln ein Vorurteil bestätigt oder mit einem Vorurteil spielt, das der Faust-Stoff nahelegt.
B.    Das Vorurteil wäre: Mephistopheles ist ein Teufel, und Teufel haben vor dem Kreuz Angst, weil ihre Macht von Jesus durch seinen Tod am Kreuz besiegt worden ist und sie mit Kreuz und Kreuzeszeichen ausgetrieben werden können. Doch wenn Mephistopheles sagt, es ist ein Vorurtheil, bedeutet es dann nicht, diese Ansicht sei falsch?
A.    Sagt jemand, eine Ansicht über ihn sei ein Vorurteil, dann fühlt er sich falsch beurteilt und wehrt sich dagegen. Aber obgleich sich Mephisto- pheles so äußert, widerspricht er dieser Auffassung, wenn er zugleich sagt, das Kreuz sei ihm zuwieder, und sich beeilt, daran vorbei zu kommen.
B.    Dies ist dann kein Widerspruch, wenn Mephistopheles ausdrücken will, dass sein Widerwillen nichts mit diesem Vorurtheil zu tun hat. Das Kreuz müsste ihm aus anderen Gründen zuwieder sein.
A.    Wenn wir diese Szene als erneuten Versuch Goethes sähen, sich mit seinen Lesern über die Rolle Mephistos zu verständigen, hätten wir eine Figur, die weiß, was man über sie im voraus denkt, und die solche Vorurteile zu bestätigen scheint, aber aus Gründen, die mit dem Vorurteil unmittelbar nichts zu tun haben.
B.    Das würde heißen, dass Mephistopheles nicht nur ironisch die Vorstellungen und mit den Vorstellungen spielt, die das Publikum von ihm hat, damit es die eigenen Vorurteile erkennt, sondern dass er diese Vorurteile in Zusammenhänge bringt, die dem Publikum nicht so geläufig wie die Vorurteile sind.
A.    Wie soll man sich das denken? Diese fast wortlose Szene gibt dafür nicht viel her.
B.    Dann lass uns die Worte betrachten, die die stummen ‚Figuren‛ der Szene beschreiben: Land Strase. Ein Kreuz am Weege, rechts auf dem Hügel ein altes Schloß, in der Ferne ein Bauerhüttgen. Wenn die Staffage der Landschaft so deutlich charakterisiert ist, wird das wohl bedeutend sein.
A.    Eine Landstraße verbindet Menschen miteinander und ermöglicht den Handel unter ihnen, falls sie nicht durch Grenz- und Zollschranken durchschnitten wird. Sie hat etwas Kosmopolitisches; nicht ohne Grund sagt man, alle Wege führen nach Rom.
B.    In unserem Fall verbindet sie auch die Wissenschaftssatire und die Gretchen-Szenen miteinander. Vielleicht drückt das nicht nur aus, dass diese Teile etwas miteinander zu tun haben, sondern auch, dass die öffentliche Straße der Ort ist, wo sich Faust und Mephistopheles als Paar bewegen.
A.    Jedenfalls erfährt man nie, dass sie in irgendeinem Haus zu Hause sind. Bewegen, vielleicht auch Fortschreiten, scheint zu ihrem Wesen zu gehören, das sie gemeinsam verkörpern.
B.    Haben Kreuz, auf dem Hügel ein altes Schloß und ein Bauerhüttgen etwas miteinander zu tun?
A.    Ja, und zwar unmittelbar: Es ist der Adel, der über das Land herrscht, dies aber nur kann, weil er von der Kirche gestützt wird, die die - geistigen - Bewegungen und damit die Erziehung im Lande unter Kontrolle hat und ihm das Attribut „von Gottes Gnaden“ zugesteht. Diese beiden ersten Stände werden von den Menschen der Bauerhüttgen am Leben erhalten, die für sie arbeiten, ohne selbst viel davon zu haben. Sie tun dies nicht nur, weil der Adel über sie Gewalt hat, sondern vor allem deshalb, weil es der Kirche gelungen ist, ihrem armseligen Dasein einen höheren Sinn zu geben.
B.    Das Bürgertum scheint in dieser Landschaft ganz zu fehlen. Kann man sagen, dass es vor allem die Kirche ist, die dem Bürgertum im Wege steht, wenn es darum geht, die Macht der alten Schlösser zu brechen?
A.    Zweifellos. Wer die Herzen der kleinen Leute beherrscht, beherrscht das ganze Land.
B.    Spräche dann Mephistopheles nicht dem Bürgertum, das die politische Macht haben will, aus dem Munde, wenn ihm das Kreuz zuwider ist?
A.    Es ließe sich so sehen. Mephistopheles verkörperte die Interessen dieses Bürgertums, und das könnte die Lösung unseres Problems mit dem Vorurtheil sein. Der Widerspruch, der uns irritiert hat, wäre beseitigt. Wir könnten sogar sagen, die Szene mache deutlich, welchen Interessen das über Teufel vorhandene Vorurteil des Publikums nützt.
B.    Falls Mephistopheles Faust überzeugt hat, dass seine Wünsche zu erfüllen sind, wenn das Bürgertum das Land beherrscht und dadurch freier Austausch von Gedanken, Erkenntnissen und Gütern möglich wird, dann ist die erste Aufgabe, die es zu lösen gilt, die Menschen in den Bauerhüttgen, also die sogenannten kleinen Leute, aus den Bindungen der Kirche zu lösen.
A.    Die Gretchen-Handlung bekäme einen von mir nicht erwarteten Sinn. Es gälte in diesen Szenen durchzuspielen, ob es möglich ist, einen Kirche und Obrigkeit treu ergebenen Menschen so zu beeinflussen, dass er sich aus den alten Verwurzelungen löst und sich denen anvertraut, die ihm das Glück auf Erden versprechen. Margarethe wäre dann die Verkörperung des kleinbäuerischen und kleinbür- gerlichen Bewusstseins in deutschen Landen.
B.    Und zugleich gälte es durchzuspielen, welche Folgen es für diese Menschen hat, wenn es gelingt, sie so zu manipulieren, dass sie sich mehr oder weniger unbewusst dem Widerwillen Mephistos gegen die Macht und die Beeinflussungen der Kirche anschließen.
A.    Die alte Fabel, dass Faust vom Teufel verführt wird und sich entscheiden muss zwischen einem gottgefälligen Leben, das erst im Jenseits honoriert wird, und einem Glück auf dieser Erde, das ewige Strafe nach sich zieht, wäre nun übertragen auf Margarethe
B.     … und Faust als der vormals Verführte wäre nun selbst der Verführer. Was ist dadurch gewonnen?
A.    Wir hätten es mit einer Verführung in der Verführung zu tun, die dazu ‚führt‛, dass der Preis, der für die Abwendung von den Versprechungen der Kirche zu bezahlen oder für die Hinwendung zur bürgerlichen Ideologie zu gewinnen ist, bereits im Diesseits abgerechnet wird. Denn Faust kann nicht im Jenseits bestrafen oder lohnen.
B.    Ob Faust seine Interessen verwirklichen kann, die Welt, oder genauer: die Natur zu erkennen und sie den eigenen Wünschen entsprechend auszunützen oder zu verändern, scheint nun davon abzuhängen, wie stark Margarethe dem kirchlichen Einflussbereich verhaftet ist.
A.    Die sexuelle Verführung Margarethes wäre also nicht das eigentliche faustische Ziel, sondern stünde für die wichtigere gesellschaftliche Verführung der Menschen, die von Margarethe in diesem Stück vertreten werden.
B.    Nehmen wir an, wir hätten diese kleine Szene richtig gedeutet, dann bliebe immer noch die Frage, ob die Faust-Figur so entworfen ist, dass sie durch- schaut, in welchen Interessenzusammenhängen sie agiert.
A.    Wenn Faust in diesem Sinne wirklich durchschaute, was er tut, wäre Mephistopheles überflüssig. Er muss unbewusst, oder genauer: unmittelbar verführen, wenn er in der Welt des Dramas als Person und für das Publikum als Figur glaubhaft wirken soll.
B.    Entsprechend dem Satz Fausts: Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen  schaffen, Wenn es Euch nicht von Herzen geht. (U 191 f.) Wenn wir folglich in Mephistopheles den ‚Manager‛ der (groß-)bürgerlichen Interessen sehen, so benutzte er eine psychologische Seite der menschlichen Natur, um die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Natur im großen ausgebeutet werden kann. Mephistopheles wäre - wenigstens teilweise - so etwas wie die nach außen auf die Bühne projizierte regulative Idee, die Fausts Handlungen im Innern steuert.
A.    Ich bin neugierig, wie weit wir mit diesen Vorgaben - oder sollen wir sagen: Vorurteilen - kommen. Die vor die eigentliche Gretchen-Handlung gesetzte Szene wäre eine Art Brille, die dazu dient, Faust und Mephisto- pheles gezielt auf die Finger zu schauen.
B.    In unserem ersten Gespräch haben wir gesehen, dass Lessings Faust an einem Geist interessiert ist, der ihm schneller als jeder andere dienen kann. An diese Verherrlichung der Geschwindigkeit erinnert mich die Frage Fausts: Was giebts Mephisto hast du Eil? Kann diese Frage, wenn man sie ein wenig aus dem szenischen Zusammenhang löst, nicht heißen: ‚Verfügst du über Geschwindigkeit?‛
A.    Und wenn man sie wieder in die Bedeutung der Szene, wie wir sie gesehen haben, einbaut, könnte sie andeuten, dass mit Hilfe der Geschwindigkeit, also mit Hilfe der der Natur abgerungenen Technik, das durch das Kreuz symbolisierte ideologische Hindernis des Bürgertums, wenn nicht beseitigt, so doch umgangen werden soll.
B.    Es gibt nicht nur eine Geschwindigkeit der Technik, sondern auch eine des Tuns. Beide scheinen in der Gretchen-Handlung benötigt zu werden.

 

(”Land Strase” ist die einzige Faust-Szene, die in der “Faustischen Welt” abgedruckt ist. )

 

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